In Moskau steht plötzlich ein Thema auf der Agenda, das so skurril erscheint, dass es kaum einer glauben kann: die Eingliederung Weißrusslands in die Russische Föderation. "Minsk gehört uns. Wird Weißrussland bald der 86. russische Föderalbezirk?" lauten etwa die Schlagzeilen. Zwei Besuche des weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko bei Wladimir Putin lösten die Spekulationen aus.
Zwischen Moskau und Minsk stehen die Zeichen derzeit auf Konfrontation. Der Grund: Russland will Zölle auf Gas- und Öllieferungen erheben. Bislang war der Import russischer Rohstoffe nach Weißrussland zollfrei. Eine Einführung dürfte Minsk umgerechnet 350 Millionen Euro im Jahr Kosten. Wenig verwunderlich also, dass sich Lukaschenko quer stellt. Putin kann seinerseits angesichts der schlechten wirtschaftlichen Lage in Russland auf das Geld schwerlich verzichten.
Um zu klären, wie dieser Intressenskonflikt zu lösen sei, reiste Lukaschenko also Ende Dezember nach Moskau. Stundenlang unterhielt er sich mit Putin hinter verschlossenen Türen. Über das Ergebnis der Gespräche schweigt man, doch das dürfte anders ausgefallen sein, als es sich der weißrussische Präsident erhofft hat. Er polterte, man solle Russland nicht mehr als "brüderlichen Staat" oder "Partner" bezeichnen.
Von russischer Seite hieß es hingegen, man erwarte von Weißrussland mehr Entgegenkommen und "Integration". Der erste stellvertretende Ministerpräsident und Finanzminister der Russischen Föderation, Anton Siluanow, erklärte, man erwarte von Minsk Schritte in Richtung Unionsstaat, wenn man weiter von den Geschenken aus Russland profitieren wolle, vor allem von den milliardenschweren Krediten und fehlenden Zöllen. Eine einheitliche Währung wäre da zum Beispiel angebracht.
Lukaschenko setzt selbst Gerüchte in die Welt
Für Lukaschenko ist die von Moskau geforderte "Integration" jedoch nur ein Vorwand, sich Weißrussland einzuverleiben. "Ich verstehe schon diese Andeutungen", kommentierte er bissig. "Es heißt, nehmt euch das Öl, aber ruiniert doch bitte euer Land und tretet Russland bei." Somit setzte Lukaschenko selbst die Gerüchte einer möglichen Vereinigung der beiden Staaten in die Welt.
Wenige Tage später ruderte er zurück. Solche Überlegungen seien "an den Haaren herbeigezogen", sagte er bei einer Beratung zur Sozialpolitik in Minsk. Er sei sich auch mit Putin einig, dass keine Vereinigung anstehe. Aber je kategorischer die Ablehnung, desto wahrscheinlicher trifft erfahrungsgemäß das Behauptete zu.
Wladimir Putin geht wohl kaum in Rente
Wenn eine Vereinigung von Weißrussland und Russland in keinem Fall im Interesse Lukaschenkos sein kann, so erscheint sie aus Putins Sicht durchaus erstrebenswert. In den Polit-Kreisen Moskaus beschäftigt man sich bereits seit längerem mit der Frage, was der Kreml-Chef im Jahr 2024 tun wird. Dann läuft seine vierte Amtszeit aus. Die Verfassung verbietet ihm eine weitere. Doch kaum jemand glaubt daran, dass Putin dann in Rente gehen wird. Er muss also einen Weg finden, weiter an der Macht zu bleiben.
Dass Dmitri Medwedew als Interims-Präsidenten wieder einspringen kann, wie er es schon mal getan hat, ist unwahrscheinlich. Der Regierungschef ist derzeit so unbeliebt wie selten zuvor. Laut einer aktuellen Umfrage des Lewada-Zentrums wünschen sich 53 Prozent der Russen den Rücktritt seiner Regierung. Eine Änderung der Verfassung wird auch als nicht wahrscheinlich betrachtet. Da rückt Weißrussland als eine "elegantere" Lösung des Problems ins Blickfeld.
Vertrag von 1996 sieht Unionsstaat vor
Sollte Weißrussland und Russland tatsächlich zu einem Unionsstaat zusammenfinden, könnte Putin Präsident bleiben. Die Basis für solche Überlegungen liefert ein Vertrag aus dem Jahr 1996, den Lukaschenko und der damalige russische Präsident Boris Jelzin unterzeichnet haben. Dieser sieht eine russisch-weißrussische Union vor. Aus Weißrussland soll demnach ein russischer Bundesstaat werden. Russland und Weißrussland sollen durch ein gemeinsames Rechtssystem, eine gemeinsame Währung - und durch einen gemeinsamen Präsidenten verbunden werden.
Bislang existierte der Unionsstaat nur auf dem Papier. Während Putin bisher nur bedingt Interesse daran hatte, die weißrussische Integration voranzutreiben, hat sich in Minsk längst die Erkenntnis durchgesetzt, dass Lukaschenko selbst nie zu dem Über-Präsidenten aufsteigen kann. Dieses Amt würde Putin zufallen. Und der könnte dann bis an sein Lebensende Präsident bleiben, denn der Unionsvertrag sieht keine Wahlen vor.
Keine Fürsprache in der Bevölkerung
Sollte Putin tatsächlich den Unionsstaat durchsetzen können, wäre der Weg für ihn frei. Aufgrund des Vertrages würde der Vorgang dem Völkerrecht entsprechen.
Aber wie wahrscheinlich ist dieses Szenario? Für Lew Gudkow, Direktor des Forschungszentrums Lewada, handelt es sich bislang um reine Spekulationen. "Lukaschenko wird sich niemals darauf anlassen", sagte er dem stern. "Damit würde er seine Macht einbüßen." Die Drohungen, Weißrussland könne sich andere Partner suchen, wie etwa die USA, seien bloß Verhandlungstatktik. "Er versucht Putin zu erpressen, doch das wird ihm nicht gelingen. Weißrussland ist zu sehr von russischer Hilfe abhängig."
Der Direktor des kremlunabhängigen Instituts glaubt zudem nicht, dass ein Unionsstreit im Interesse Putins ist. "In der Bevölkerung gibt es nicht genug Rückhalt für diese Idee. In den 90-er Jahren war die Vorstellung noch sehr populär. Damals hätten 60 Prozent eine Vereinigung begrüßt. Doch heute sind es noch höchstens 30 Prozent.". Damit würde eins der Argumente, derjenigen, die glauben, eine Vereinigung stehe auf dem Plan, entkräftet. Viele spekulieren nämlich darauf, dass ein solcher Schachzug Putin von innenpolitischen Problemen befreien würde. Die Beliebtheitswerte des Präsidenten haben im vergangenen Jahr erheblich gelitten. Der Krim-Rausch ist vorbei. Steuererhöhungen, eine Rentenreform und steigende Preise setzten der Bevölkerung zu. Ein neuer außenpolitischer Erfolg könnte wieder für Ablenkung sorgen, so der Gedanke. Doch eine Vereinigung mit Weißrussland steht für die Bevölkerung zurzeit nicht auf der Prioritätenliste.
Guter Zar, böse Bojaren
"Man muss jedoch sagen, dass Putin bislang wenig Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Bevölkerung genommen hat", gibt Gudkow zu bedenken. Wenn etwas Putin als vorteilhaft erscheine, mache er es auch. Zur Not ist immer noch Dmitri Medwedew als Sündenbock da. "Putins Herrschaft basiert auf einem simplen System: der gute Zar, die bösen Bojaren [russische Adelige]." Alles was im Land schief läuft, haben Abgeordnete, lokale Politiker, Behörden und Medwedew zu verantworten. Putin schwebt hingegen erhaben über allem. "Die Rentenreform hat aber auch ihm geschadet, weil er sie letztendlich unterschrieben hat. Doch das System funktioniert noch", so der Soziologe. Solange das so ist, gebe es für Putin wenig Sinn etwas zu ändern.
Seit der Annexion der Krim muss man jedoch auch Ideen, die früher als Hirngespinste galten, durchaus ernst nehmen.