Ursula von der Leyen hat ein Problem. Sie muss da jetzt rein, mitten rein in diese Menschentraube aus Kameraleuten, Bodyguards und Neugierigen, die sich da gerade durch den großen Saal auf dem Studio-Gelände in Adlershof walzt. Irgendwo da drinnen ist Angela Merkel. Und von der Leyen will jetzt in diesem Gedränge bei ihrer Kanzlerin sein.
Das TV-Duell mit dem SPD-Herausforderer Martin Schulz ist nun eine satte halbe Stunde vorbei. Erste Blitzumfragen zeigen: Merkel liegt in der Zuschauergunst vorn, in der ARD sogar ziemlich deutlich, im ZDF knapp. Verfestigt sich dieser Eindruck in den nächsten Stunden und am nächsten Tag - und darauf kommt es jetzt an - , dann scheint die letzte Chance der in den Umfragen weit zurückliegenden SPD, die Bundestagswahl in knapp drei Wochen zu gewinnen, nur noch theoretischer Natur zu sein.

Angela Merkel demonstriert Zuversicht beim Weißwein
Es ist also so etwas wie ein entscheidender Moment an diesem Abend in Adlershof. Die Verteidigungsministerin zwängt sich durch die Massen, schließlich schafft sie es. Gemeinsam mit der CDU-Vize Julia Klöckner, Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier und dem NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet bildet von der Leyen schließlich einen kleinen Kreis um Merkel. Die genehmigt sich in großen Zügen ein Glas Weiswein, ein bisschen erschöpft vom 97-minütigen Rededuell mit dem auf Angriff gebürsteten Schulz. Ein paar Mal hat sie in den vergangenen anderthalb Stunden ein bisschen defensiv ausgesehen, jetzt aber wirkt sie ganz zufrieden. Es gilt, Zuversicht zu demonstrieren. Mehr als ein bisschen gekünstelter Smalltalk ist in diesem Pulk nicht möglich. Es geht nur um die Bilder - Bilder der Geschlossenheit. Von der Leyen lächelt jetzt. Aber das tut sie ja immer.
Wenn man weiß, wie wenig Angela Merkel solche Momente mag - mitten im Pulk und ohne Chance zu sehen, wo sie gerade genau ist - dann hat man in diesem Moment einen Begriff davon, was Spitzenpolitiker bereit sind zu tun für Macherhalt oder -erwerb.
Es sind mittlerweile eingespielte Rituale, die sich nach dem alle vier Jahre stattfindenden TV-Duell abspielen. Beide Lager haben für diesen wichtigen Abend ihre erste Garde zum Gute-Stimmung-Machen und Spindoktorn nach Adlershof geschickt, haben Minister und Ministerpräsidenten aufgefahren. Nur wenige Minuten nach Merkel kommt Martin Schulz, das gleiche Gedränge, die gleiche Enge.
Es gilt, Bewertungshoheit zu erlangen
Es gilt, die Bewertungshoheit über das Duell zu erlangen. Im Unionslager fehlt aus der ersten Reihe nur Innenminister Thomas de Maiziere - und Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer, aber den hätte eh keiner erwartet. Der Rest ist vollständig versammelt, bereit, Merkel als Siegerin auszurufen, auch wenn viele während des laufenden Duells mehr auf ihre Smartphones schauen, als auf die großen Leinwände im Saal, auf denen das Duell übertragen wird.
Volker Kauder, der Fraktionschef der Union im Bundestag, hat für diesen Abend sogar seinen Geburtstag sausen lassen, ganz Parteisoldat. Er ist 68 geworden, hat zur Feier des Tages auf seine Krawatte verzichtet. Kurz vor Beginn der Sendung haben sie ihm ein Ständchen gesungen "Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen...." – unmittelbar danach, ist er von der Souveränität der Kanzlerin so angetan, als habe er sie in seinem Leben das erste Mal gesehen.

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Der SPD war am Nachmittag der Fehler unterlaufen, die Meldung zu früh herauszugeben, die Schulz als Sieger des Duells sah. In der Union spötteln sie ein bisschen darüber, innerlich aber wohl ganz froh, dass ihnen selbst dieser Lapsus erspart geblieben ist.
Kauder regt sich über Schulz' Türkei-Aussagen auf
Kauder regt sich besonders über die Türkei-Passage des Duells auf, in der Schulz eine harte Hand gegenüber dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gefordert hatte. Der SPD-Herausforderer hatte Merkel an dieser Stelle etwas zaghaft wirken lassen. Kauder empört sich: "Als Staatschef muss ich genau überlegen, welche Auswirkungen mein Verhalten auf die hat, die in der Türkei inhaftiert sind." Noch deutlichere Worte findet kurz vor Mitternacht Kanzleramtschef Peter Altmaier, der von einem groben Foul des Herausforderers in Sachen Türkei-Haltung spricht, weil Merkel sich mit SPD-Außenminister Sigmar Gabriel immer eng abgesprochen habe.

Die Türkei wird in den nächsten Tagen zum Wahlkampfthema werden, so viel kann man schon mal voraussagen. Vielleicht auch die Rente. Während des Duells hatte Schulz Merkel die Aussage abgerungen, dass die Rente mit 70 nicht kommen werde. Schulz hatte Merkel für dieses konkrete Versprechen sogar ausdrücklich gelobt "a la bonne heure." In der Unionsecke haben sie sich an dieser Stelle ein bisschen lustig gemacht, weil sie wissen, dass ironisiertes Lob im Publikum meistens nicht als solches verstanden wird - es bleibt als Lob.
Doch egal, was noch kommen wird in den nächsten Jahren - in der Union sind die ersten nach diesem Duell und angesichts des deutlichen Vorsprungs bereits derart von einem Wahlsieg überzeugt, dass sie mit ihrer Zuversicht nicht mehr hinter dem Berg halten. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet steht zu später Stunde noch ein wenig abseits mit der Schauspielerin Uschi Glas, einer langjährigen Merkel-Unterstützerin, zusammen. Glas lobt die "Klarheit und Strukturiertheit“ der Kanzlerin und die Art, wie sie ruhig geblieben sei im Schlagabtausch mit Schulz. Die Schauspielerin will sich auf einen Wahlausgang nicht festlegen. Das übernimmt dann Laschet für sie: "Da brennt nichts mehr an“, sagt Laschet und lächelt zufrieden.