Wie lange ist das jetzt her, dass der Kanzler von diesem Ort aus seine Zeitenwende verkündete, mit ausnahmsweise ziemlich klaren, markigen Worten? Wann war das gleich noch mal, als Olaf Scholz von Russlands Angriff auf die Ukraine als "menschenverachtend", "völkerrechtswidrig", "durch nichts und niemanden zu rechtfertigen" geißelte? Wie viel Zeit ist vergangen, seit er "die schrecklichen Bilder", "die ganze Skrupellosigkeit Putins", "die himmelschreiende Ungerechtigkeit" und den "Schmerz der Ukrainerinnen und Ukrainer" beklagte?
Ein Monat? Ein Jahr? Eine Ewigkeit?
Und was ist passiert in diesen tatsächlich 38 Tagen seit dieser Regierungserklärung, von der man glaubte, sie würde historischen Rang einnehmen? Nun, die schrecklichen Bilder sind noch schrecklicher geworden, die Ungerechtigkeit schreit noch lauter zum Himmel. Und sonst?
Und sonst steht OIaf Scholz an diesem Mittwoch, an dem der Bundestag auch über die Gräuel von Butscha debattieren und danach an das Grauen von Srebrenica erinnern wird und den Beginn des Bosnien-Krieges vor 30 Jahren, an diesem Mittwoch also steht Scholz wieder im Bundestag, nur dieses Mal nicht am Rednerpult, sondern vor seinem Kanzlerstuhl an der Regierungsbank, neben sich den Wirtschaftsstaatssekretär Michael Kellner, der seinen ähnlich verstrubbelten Chef Robert Habeck vertritt.
Der Vizekanzler wird gleich sein sogenanntes Osterpaket vorstellen, das Maßnahmenbündel, mit dem die Energiewende vorangetrieben werden soll, um so schnell wie möglich aus der Abhängigkeit der russischen Öl-, Gas- und Kohlelieferungen zu kommen und, das ja auch, den Klimawandel aufzuhalten. Es ist ziemlich viel geboten an diesem Tag.
Klare Worte. Sie stammen aber, leider, nicht vom Kanzler
Dreimal im Jahr stellt sich der Kanzler den Fragen der Abgeordneten. Vor der Sommerpause. Vor Weihnachten. Und, wie jetzt, vor Ostern. Jeweils mittwochs, jeweils eine Stunde. Es ist ein Routineauftritt. Nur gibt es in dieser Zeit keine Routine mehr. Darf es sie nicht geben. Sollte es sie nicht geben dürfen.
Zu den Regularien gehört auch, dass der Kanzler eingangs fünf Minuten bekommt, sich kurz zu erklären, oder, in den Worten von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, "einleitende Äußerungen" zu machen. Scholz überzieht die Zeit um fast das Doppelte. Und wieder geht es um "entsetzliche Bilder", um "Massaker" und "Kriegsverbrechen". Um die Befürchtung, bald "weitere solcher Bilder" sehen zu müssen.
"Putins Krieg" hatte Scholz den Überfall auf die Ukraine in den ersten Kriegstagen genannt. Er wollte nicht das russische Volk in kollektive Verantwortung nehmen für die Taten seines Präsidenten. Diese feinsinnige Trennung lässt sich längst nicht mehr aufrechterhalten. Nicht nach sieben Wochen, in denen die russischen Truppen Städte in Schutt und Asche legen und die Bevölkerung aushungern, in denen Soldaten Zivilisten brutal ermorden.
Es ist "eine Entmenschlichung, die alle Grenzen überschritten hat". Und Putin mag der Auftraggeber sein, "aber es sind nicht nur seine Taten. Jeder Kommandant, der so etwas befiehlt, jeder Soldat, der so eine Tat ausführt oder geschehen lässt, macht sich mindestens genauso schuldig." Die "Grausamkeit des Systems Putin" kenne keine Grenze, keine Hemmungen. "Wer handelt wie Putin, dem ist es egal, ob die Leichen auf den Straßen von Butscha liegen oder auf den Straßen von Tiflis, Vilnius oder Berlin sind."
Klare Worte. Sie stammen aber, leider, nicht vom Kanzler. Sagen wird sie, knapp zwei Stunden nach Scholz, seine Verteidigungsministerin Christine Lambrecht in der kurzfristig anberaumten Debatte über die Massaker der russischen Truppen in Butscha. Die Sozialdemokratin hat in den wenigen Monaten im Amt keine allzu glückliche Figur gemacht. An diesem Mittwoch wünschte man sich allerdings, der Kanzler hätte ein bisschen was von ihr.
Olaf Scholz bleibt Olaf Scholz
Man hört – und erfährt – von Scholz in dieser Fragestunde im Wesentlich nichts Neues. Was, soviel Fairness muss sein, nicht allein an ihm und seiner angeborenen oder antrainierten rhetorischen Schmallippigkeit liegt. Sondern an den eingeschliffenen Ritualen, an dem die Parlamentarier auch in diesen Zeitenwende-Zeiten festhalten. Die Abgeordneten der Ampel-Partei stellen Gefälligkeitsfragen. Die der Opposition verlieren sich in oppositioneller Korinthenkackerei. Soviel Routine muss dann offenkundig doch sein, selbst an einem solchen Tag.
Und Scholz? Bereitet es sichtlich Vergnügen, diese Fragen weitestgehend nicht zu beantworten. Immerhin macht er das knapper als seine Vorgängerin. Und streut dann tatsächlich doch noch so etwas wie eine Neuigkeit ein. Seine Regierung, kündigt der Kanzler an, plane ein "Sanktionendurchsetzungsgesetz", um die Maßnahmen gegen Russland und russische Oligarchen effektiver umsetzen zu können. Sanktionendurchsetzungsgesetz – muss man auch erst mal drauf kommen.
Ansonsten ist in dieser Stunde ohnehin eher interessant, welche Fragen nicht gestellt werden an diesem Tag. Zum Beispiel, warum der Kanzler zwar in regem, nun ja, Meinungsaustausch mit dem russischen Präsidenten steht, es aber offenkundig nicht in Erwägung zieht, wie die EU-Kommissionspräsidentin nach Kiew zu fahren, um sich mit Wolodymyr Selenskyj zu treffen. Oder ob sich Deutschland an dem Kohle-Embargo beteiligen werde und welche Konsequenzen das habe. Und ob die Regierung denn inzwischen die Lieferung der tschechischen Panzer aus der Erbmasse der Nationalen Volksarmee an die Ukraine genehmigt habe.
Durchaus spannende Fragen. Auch wenn die Hoffnung gering ist, der Kanzler würde darauf tatsächlich befriedigende Antworten gaben. Die Zeiten mögen sich vielleicht wenden. Dieser Olaf Scholz nicht mehr.