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Rechtsradikalismus "Du Stück Scheiße, du gehörst vergast"

Sie wird mit Hassmails bombardiert, beleidigt, bedroht. In Dresden versuchte sie, mit Pöblern zu reden – vergebens. Die Grüne Claudia Roth erlebt einen neuen deutschen Kulturkampf.

Sie sitzt an ihrem Schreibtisch im Berliner Jakob-Kaiser-Haus, vor ihr liegt der Ausdruck einer E-Mail. Gesendet: Dienstag, 4. Oktober 2016, 21.43 Uhr. Absender: "Anonymous". Empfänger: "Roth Claudia". Betreff: "Du fette Warze verrecke". Claudia Roth liest laut vor: "Nach dem Auftritt in Dresden hättest du arrogantes Stück Scheiße einen Knüppel zwischen die Zähne bekommen sollen, der dir alle Zähne hätte ausschlagen müssen!"

Die Stimme der Grünen-Politikerin wird brüchig. Trotzdem liest sie weiter: "Ihr grünen Drecksviecher, Kinderficker und Drogenjunkies müßtet gejagd und aufgeknüpft werden und zur Abschreckung sollen eure Kadaver hängenbleiben bis euch die verfaulten Fetzen abfallen." Jetzt kann sie nicht mehr. Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags ist den Tränen nahe. Aber Tränen will sie auf gar keinen Fall zeigen. Tränen würden jetzt vor allem eines zeigen: "Die" haben sie mit ihren Worten getroffen. "Die" haben sie geschafft.

"Die" – das sind Menschen, die Claudia Roth nicht kennt. Sie sitzen irgendwo in Deutschland und fluten, meist aus dem Schutz der Anonymität heraus, ihr Postfach sowie ihre Facebook-Seite mit Hass- und Drohbotschaften. Als "ungelernte hässliche Fotze" und "widerliche Made" wird die Grünen-Politikerin bezeichnet. "Du gehörst vergast", schreibt einer. Ein anderer: "Rothfront verrecke! Wir jagen dich, wir kriegen dich, WIR BRINGEN DICH ZUR STRECKE".

Das politische Klima in Deutschland brutalisiert sich

Sie macht seit drei Jahrzehnten Politik. Immer bunt, immer laut, immer mit großer, gefühliger Geste. So eine polarisiert, Spott und Ablehnung gehören seit je zu Claudia Roths Begleitern. Doch seit das Land über die Aufnahme Hunderttausender Flüchtlinge streitet, erlebt sie mehr als nur Spott und Ablehnung. Sie erlebt Wut und Hass in nicht gekannter Dimension.

Bis zu 100 Mails mit schweren Beleidigungen und massiven Bedrohungen erreichen sie pro Woche. In ihrem Bundestagsbüro füllen die Zuschriften inzwischen ein Regalbrett mit dicken Aktenordnern. Was auf ihrem Facebook-Account an Hasskommentaren aufläuft, ignoriert Roth zumeist – aus Selbstschutz. "Ich kann mir das nicht ansehen. Wenn ich nachts da drüber gucke, wird mir schlecht."

Das politische Klima in Deutschland brutalisiert sich, das erlebt nicht nur Claudia Roth. Minister, Abgeordnete und Bürgermeister werden bepöbelt, bedroht und tätlich angegangen. Das Messerattentat eines Rechtsradikalen auf die Kölner Oberbürgermeister-Kandidatin Henriette Reker im Oktober 2015 war nur der bislang krasseste Fall.

Pistolenpatronen im Briefkasten und Drohbriefe

Roths Vizepräsidentin-Kollegin Petra Pau von der Linkspartei erhielt mehrere Morddrohungen. Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) fand in seinem Briefkasten eine Pistolenpatrone. In Tröglitz, Sachsen-Anhalt, legte der dortige Ortsbürgermeister sein Amt nieder, nachdem Rechtsextreme ihn und seine Familie wegen einer geplanten Flüchtlingsunterkunft wochenlang bedroht hatten. Pegida-Marschierer stellten einen selbst gebastelten Galgen zur Schau, der für die "Volksverräterin" Angela Merkel vorgesehen war.

Eine dunkle Parallelgesellschaft rassistischer Hetzer und Gewaltfanatiker hat sich breitgemacht, spätestens seit dem Einsetzen der großen Flüchtlingswelle vor gut einem Jahr. Sie hat der politischen Klasse in Deutschland pauschal den Kampf angesagt. Der konservative Historiker Paul Nolte registriert im Lande eine "quasirevolutionäre Unruhe". Ein Hauch von Weimar weht durch die Republik.

Bis vor Kurzem bekam Claudia Roth diese Parallelgesellschaft nicht zu fassen. Die Absender, die mit ihren Hassmails Roths Aktenordner füllten, waren für die Politikerin Menschen ohne Stimme und ohne Gesicht. Dann kam Dresden, der Tag der Deutschen Einheit. Der Tag, der so vieles veränderte.

Roth hatte sich an diesem Tag extra etwas Schickes angezogen, ein grünes Kleid mit Glitzersteinen und Perlen, sie hatte das Gefühl: "Wir haben ja was zu feiern." Nur 300 Meter waren es von ihrem Hotel zum Festgottesdienst in der Frauenkirche. Eine Limousine war nicht vorgesehen, sie hätte sie aber auch gar nicht gewollt.

Eine Kusshand für den Mob

Der Weg wurde zum Spießrutenlauf. Hinter den Absperrgittern der Polizei empfing sie eine wütende, aggressive Menschenansammlung. "Hau ab!", wurde sie angebrüllt, als "Volksverräterin" beschimpft. Roth startete über das Gitter hinweg einen Gesprächsversuch: "Warum sagen Sie zu mir 'Hau ab!' und 'Volksverräterin'?" Die Antworten: "Weil Sie 'ne Hetzerin sind!" "Weil Sie die Vernichtung des deutschen Volkes vorantreiben!" Der Rest des "Gesprächs" ging unter im Lärm von Trillerpfeifen und "Hau ab!"-Sprechchören.

Roth warf dem wütenden Mob noch eine Kusshand zu und wandte sich ab. Sie wollte sich nicht provozieren lassen, sie wollte in dieser Orgie von Hass ihre Würde retten und so etwas wie gute Kinderstube zeigen.

Blitzschnell verbreiteten sich im Internet Handyvideos von der Begegnung, zigtausendfach wurden sie angeklickt. Schon jetzt sind sie ein Dokument der Zeitgeschichte. Sie zeigen ein Deutschland, das auseinanderfällt. Ein Deutschland, in dem die Repräsentanten des Staates und ein – wenn auch nur kleiner – Teil des Volkes sich nichts mehr zu sagen haben, sondern fertig miteinander sind. "Ich sah in Gesichter, die waren völlig verzerrt, die hatten sich völlig aufgelöst in Wut und Hass", erinnert sich Claudia Roth. "Ich hatte das Gefühl: Da fehlt jetzt nur noch ganz wenig, dann schlägt das um in direkte körperliche Gewalt. Es herrschte eine unglaubliche Lynchatmosphäre."

Die unbekannten Personen, die ihre Aktenordner füllen, für Claudia Roth bekamen sie in Dresden plötzlich Gesicht und Stimme.

Sie fragt sich: Warum gerade ich? Klar, die Pöbel- und Hasswelle trifft nahezu alle Repräsentanten des Staates. "Fotze" und "schwules Stinktier" schleuderten die enthemmten Protestierer ihnen in Dresden entgegen. Aber kaum ein Politiker weckt im rechten Milieu solche Aversionen wie Claudia Roth – die laute, selbstbewusste Frau, die wie keine andere für die bunte Republik Deutschland steht. Als "Claudia Fatima Roth" wird sie in rechtsradikalen Blogs verunglimpft. Sie gehöre "standrechtlich erschossen", pöbelte Pegida-Gründer Lutz Bachmann auf seinem Twitter-Account.

Dutzende Anzeigen sind raus

In ihrem Berliner Büro hat sich Claudia Roth eine Art Gegenwelt geschaffen. Gegen das Deutschland da draußen, das sie immer öfter als kalt und brutal erlebt. Eine Phalanx von Grünpflanzen verbreitet exotische Dschungelatmosphäre, die Stühle sind mit bunten Stoffen bespannt. Ein großer, alter Holztisch sorgt für Wohnlichkeit. Die Mitarbeiter erzählen, dass sie ihrer Chefin 90 Prozent der Hass-Post gar nicht erst zeigen, weil die sonst wahnsinnig würde.

Dutzende Anzeigen wegen Beleidigung hat Roth erstattet, aber die zuständige Berliner Staatsanwaltschaft entscheidet fast immer auf Einstellung des Verfahrens: Die Täter seien nicht zu ermitteln. Denn meistens tarnen sich die Hassmailschreiber mit "Nicknames". Und selbst wenn die tatsächlichen Namen herauszubekommen sind, ist es für die Strafverfolger immer noch schwierig, den "tatsächlichen Verfasser" beweiskräftig zu ermitteln.

Für Roth ist all das eine zutiefst verstörende Erfahrung. Jahrelang lebte sie in der wärmenden Gewissheit, auf der Seite des Guten und Richtigen zu stehen, auf der Seite von Schwulen, Lesben, Frauen und Migranten, gegen Atomkonzerne und Kriegstreiber. Ablehnung von Bürgerlich-Konservativen kennt sie, damit konnte sie immer umgehen, die empfand sie als Bestätigung für die Richtigkeit ihres Tuns. Über all die Jahre wurde die Republik liberaler, toleranter, weltoffener. Roth demonstrierte im fränkischen Wunsiedel gemeinsam mit einem CSU-Bürgermeister per Sitzblockade gegen einen Neonazi-Aufmarsch. Irgendwann hatten sich Claudia Roth und das Land so weit aufeinander zubewegt, dass sie der Deutsche Bundestag zu seiner Vizepräsidentin wählte.

Ein neuer politischer Protest

Jetzt aber sieht sie sich einem bis zum offenen Hass gesteigerten Kulturkampf gegen diese von ihr mit erstrittene "bunte Republik" ausgesetzt. "Da kippt etwas weg", sagt Roth. "Es werden öffentliche Räume dem rechten Hass freigegeben. Da kommt der Bundespräsident, das ist eine Institution, ein feiner Mensch, und dann brüllen die Leute entsetzliche Beleidigungen und Obszönitäten. Diese Menschen haben überhaupt keinen Respekt mehr vor den Verfassungsorganen und unseren Grundrechten." Ihre Stimme bebt vor Zorn, als sie das sagt.

Man kann eine gewisse Ironie darin erkennen, dass Claudia Roth nun genau jene Aktionsformen politischen Protests kritisiert, die für ihre eigene Biografie durchaus prägend waren. Trillerpfeifen, Sitzblockaden und zuweilen recht deftige Ausdrücke im Umgang mit dem politischen Gegner waren ihr nie fremd. Dass sie sich etwa sonderlich empörte, als vor Jahren linke Protestierer das damalige "Verfassungsorgan" Helmut Kohl in Halle mit Eiern bewarfen und ihn am Kopf trafen, ist nicht überliefert.

Aber von solchen Parallelen will sie nichts wissen. "Das, was jetzt passiert, ist doch etwas ganz anderes", sagt sie. "Wir haben gegen gefährliche Technologien und politische Inhalte demonstriert. Jetzt geht es gegen Menschen. Es geht darum, Menschen ihre Grundrechte zu nehmen. Das ist eine ganz neue Dimension."

"Die wollen ein anderes Deutschland"

Als der AfD-Co-Vorsitzende Jörg Meuthen im April auf dem Parteitag der Rechtspopulisten in Stuttgart gegen das "links-rot-grün versiffte AchtundsechzigerDeutschland" agitierte, tobte die ganze Halle. Claudia Roth hat diese Polemik auch auf sich bezogen. Ein Aufkleber in Parteigrün mit der Aufschrift "Grün, Links, Versifft" ziert jetzt wie zum Trotz das Etui ihrer Lesebrille. "Die wollen ein anderes Deutschland", sagt sie, "nicht ich. Das ist wirklich eine neue Rolle für mich, dass ich jetzt plötzlich meine Heimat Deutschland verteidige. Wenn ich sehe, dass Grundrechte wie die Menschenwürde oder die Religionsfreiheit angegriffen werden, dann bin ich heute eine Verfassungsverteidigerin."

Die ewig Engagierte, die ewig Protestierende – sie steht heute auf der anderen Seite der Barrikade. Auf der Seite der Verfassungsorgane. Der Tag von Dresden erzählt etwas über den Rollenwechsel der grünen Politikerin Claudia Roth. Aber er erzählt auch etwas über dieses Deutschland, in dem wir leben. Wie es sich verändert hat. Und wer es heute bedroht.

Hat sie keine Furcht vor der ganzen Wut, vor dem Hass, der ihr entgegenschlägt? Vor den Menschen, die jetzt Stimme und Gesicht haben und sie bedrohen? "Nee!", ruft sie trotzig und schnellt in ihrem Bundestagsbüro ruckartig von ihrem Schreibtisch hoch. "Dieses Geschenk mache ich denen nicht. Denn dann haben die gewonnen." Claudia Roths Blick sagt etwas anderes. Es ist, zumindest in diesem Moment, der Blick einer Frau, die Angst hat.

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