Ein Plan bietet Orientierung, schafft aber auch Erwartungen. Olaf Scholz hat das eine vorgelegt und kann das andere wohl nicht erfüllen: Seine Ankündigung von Ende November, eine Impfpflicht gegen das Coronavirus solle "ab Anfang Februar, Anfang März" in Deutschland gelten, lässt sich kaum noch in die Tat umsetzen. Der Zeitplan des Sozialdemokraten, dessen Kanzlerschaft gerade erst beginnt, dürfte nicht mehr einzuhalten sein. Und die Union weist genüsslich darauf hin.
"Da wird wertvolle Zeit vertrödelt", moniert etwa Thorsten Frei. "Das ist das Gegenteil von Führung, das ist Arbeitsverweigerung!", sagte der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion zur "Bild am Sonntag". "Scholz duckt sich weg", meint Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus. Auch Friedrich Merz, der designierte CDU-Parteivorsitzende, vermisst klare Ansagen von der Ampel-Koalition, während Markus Söder, der Vorsitzende der Schwesterpartei CSU, noch "am besten im Januar" einen konkreten Gesetzentwurf der Bundesregierung sehen will.
Kurzum: Die Union macht Druck auf die Koalition, fordert "Tempo und auch Führung bei dieser Frage", wie es NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) in einer Pressekonferenz nach den Bund-Länder-Beratungen sagte – während Adressat Scholz zu seiner linken saß. Die Botschaft gilt wohl als zugestellt.
Dass die Union nicht locker lässt, und Scholz' Regierung in den Schwitzkasten nimmt, ist legitim. Als langjährige Regierungspartei, die 16 Jahre lang das Kanzleramt besetzte und ihre neue Rolle in der Opposition noch finden muss, dürfte das Thema auch ein willkommener Anlass sein, die Neuen politisch zu stellen.
Führung bestellt, aber nicht eingelöst
Scholz fuhr im Wahlkampf erfolgreich die Strategie, sich als "der Merkel" zu inszenieren, als kompetenter Nachfolger mit vielen Parallelen zur krisenfesten Vorgängerin, ausgereizt bis zur "Merkel-Raute" – der Rollentausch brachte ihm sogar den Vorwurf der "Erbschleicherei" ein. Doch anders als Merkel ist Scholz auch jemand, der seinen Führungsanspruch deutlich formuliert. Unvergessen die Ansage aus Hamburger Zeiten: "Wenn man bei mir Führung bestellt, bekommt man sie auch."
Nichts als heiße Luft, wenn es ernst wird? So will es die Union offenbar verstanden wissen – denn von Scholz' Versprechen, Führung zu liefern, sei "nach den ersten Wochen Ampel nichts zu spüren", twitterte etwa der Unionsabgeordnete Jan-Marco Luczak. "Insbesondere bei der Impfpflicht duckt er sich weg – das ist bei einer so zentralen Frage sehr schwach!" Die CDU/CSU verbreitete die Wortmeldung auf ihrem Account weiter.
Scholz hatte sich zwar wiederholt für die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht ausgesprochen, die politische Umsetzung aber ans Parlament delegiert. Die Koalition verständigte sich darauf, die Impfpflicht im Bundestag über Gruppenanträge zu behandeln, hinter denen sich die Abgeordneten frei von ihrer Fraktionszugehörigkeit versammeln können. Die Ampel-Partner begründeten den Schritt mit der Sensibilität des Themas.
Daran ist nichts auszusetzen, Gesetze werden im Bundestag verabschiedet. Dennoch könnte Scholz, der auch Abgeordneter ist, den Ampel-Fraktionen einen Vorschlag unterbreiten. Dass er es nicht tut, könnte auch an möglichen Abweichlern in den eigenen Reihen liegen – eine Gruppe von FDP-Abgeordnete hatte sich bereits gegen eine Impfpflicht ausgesprochen, zuletzt dämpften auch SPD und Grüne die Erwartungen an eine schnelle Impfpflicht. Aus Skepsis? In jedem Fall dürfte Scholz den Eindruck vermeiden wollen, dass die Ampel uneins darüber ist, wie in der Krise zu agieren ist – zumal schon das Infektionsschutzgesetz nachgebessert werden musste.
Unionsfraktion sieht Scholz' Kabinett in der "Bringschuld"
Bei dieser Uneinigkeit setzt die Union an. Dabei scheint es auch in der eigenen Fraktion unterschiedliche Meinungen zur Impfpflicht zu geben. "Am Dienstag werden wir uns in einer Fraktionsveranstaltung offen und konstruktiv mit der allgemeinen Impfpflicht befassen", sagte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende, Sepp Müller, zum stern. Man habe sich "noch keine abschließende Meinung" diesbezüglich bilden können, weil Kanzler Scholz Fragen "von der Umsetzung über den Wirkungsgrad bis hin zur Durchsetzung" noch nicht beantwortet habe.
Ob CDU/CSU weiter auf Antwort warten werden, bis sie einen eigenen Antrag präsentieren könnten, scheint indes zweitrangig. Die Union sieht die Ampel in der Pflicht. "Wir erwarten, dass die Bundesregierung ihrer Verantwortung gerecht wird und bei einem solch verfassungsrechtlich sensiblen Thema einen Gesetzesentwurf vorlegt", so Müller. Es handle sich nicht um eine Gewissensentscheidung, sondern um eine politische.

"Als führende Oppositionsfraktion erwarten wir von der Bundesregierung, dass sie zunächst unsere detaillierten und dringlichen Fragen zur Impfpflicht beantwortet." Scholz und sein Kabinett seien in der "Bringschuld, schnellstmöglich einen Gesetzesentwurf als Diskussionsgrundlage vorzulegen." Eine Sondersitzung des Bundestages würde die Unionsfraktion begrüßen "und dafür allen nötigen Fristverkürzungen zustimmen", betont Müller.
Am heißen Eisen der Impfpflicht sollen sich zunächst Scholz und die Ampel verbrennen, scheint es. Ob der Plan aufgeht, bleibt abzuwarten.