Auch in diesen Momenten erweist sich die Corona-Pandemie als undankbar. Wenn eine FFP2-Maske das Gesicht zur Hälfte verdeckt, nur die erschöpften Augen hervorlugen, praktisch keine Miene zu erkennen ist. Doch Annalena Baerbock braucht weder Worte noch Mimik, um ihre politische Botschaft zu platzieren. Sie ist da, vor Ort, sie zeigt Präsenz. Etwa, wenn sie die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem besucht...

... oder den Opfern der ukrainischen Hungersnot in Kiew gedenkt....

... und sich im Konfliktgebiet zwischen der Ukraine und Russland in die Schusslinie stellt.

Baerbock ist da, wo es ernst wird. Sie weicht Krisen und Konflikten nicht aus, sondern nimmt sie an. Das ist der Eindruck, der in diesen Tagen entsteht. In vielen Augen macht die Bundesaußenministerin damit gerade viel richtig. Es ist nicht lange her, da wurde an ihr vor allem gezweifelt.
Kann sie Außenministerin? Die Mehrheit der Deutschen sprach Baerbock zu ihrem Dienstantritt die Eignung dafür ab. Diebisch riefen ihre Kritiker die Patzer (im Lebenslauf), Pannen (um Weihnachtsgeldzahlungen) und Peinlichkeiten (in der Plagiatsdebatte) aus dem Wahlkampf in Erinnerung. Aus dem politischen Off wurden ihr polemische Ratschläge von Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) erteilt, der sie noch am Tag ihrer Vereidigung maßregelte, sie könne in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht nach dem Motto "am grünen Wesen soll die Welt genesen" verfahren. Ihr vermeintlich unsauberes Englisch während ihrer ersten Antrittsreisen wurde mit Häme, Hohn und Spott kommentiert.

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Nun, 65 Tagen im Amt, macht sich eine neue Begeisterung für Baerbock breit. Die Außenministerin gewinnt an Ansehen in der Bevölkerung, wird parteiübergreifend mit Lob und wohlwollenden Schlagzeilen bedacht. Haben sich alle geirrt?
Annalena Baerbock sorgt für Begeisterung...
Es ist nicht ungewöhnlich für eine Außenministerin, viel zu reisen. Es ist eingepreist. Baerbock aber ist sehr viel unterwegs. Paris. Brüssel. Warschau. Rom. Kiew. Moskau. Ihr Antrittsbesuch im Nahen Osten, der am Mittwoch begonnen hat, führt sie nach Israel, Jordanien und Ägypten. Schwierige Gespräche führen muss sie überall.
Paris: das Streitthema Atomkraft als "grüne" Energie.
Warschau: Forderungen und Probleme, von Reparationszahlungen bis zur Gaspipeline Nord Stream 2.
Israel: der brachliegende Nahost-Friedensprozess.
Doch ein Thema hat Baerbock praktisch auf allen ihrer Reisen begleitet: die Bedrohungslage durch Russland an der ukrainischen Grenze. Entsprechend aufmerksam wurde ihr Auftritt in Moskau verfolgt: Kann es die unerfahrene Außenministerin mit dem erfahrenen und gewieften Amtskollegen aus Russland aufnehmen – oder wird sie von Sergej Lawrow regelrecht vorgeführt, wie einst ihr Vorgänger Heiko Maas bei seinem Antrittsbesuch?
Ein diplomatischer Paukenschlag gelang ihr nicht, doch ein souveräner Auftritt.
Sie sendete versöhnliche Töne, als sie die Bereiche aufzählte, in denen Deutschland enger mit Russland zusammenarbeiten könnten. Zeigte Haltung, als sie zum aggresiven Auftreten Russlands Stellung bezog. Rückte Behauptungen gerade, als sie nach dem angeblich ungerechten Umgang mit dem staatlichen Propagandasender RT gefragt wurde. Einen Affront vermied sie.

Baerbock führte damit vor, was sie unter der "wertegeleiteten Außenpolitik" versteht, die sie bei ihrer Amtsübernahme ankündigte: Dialog und Kooperation, aber auch Entschiedenheit. Das Medienecho war eindeutig: "Baerbock besteht ihre Feuertaufe", hieß es hier, "ein kluger Auftritt", hieß es dort.
In Kiew, bei ihrem zweiten Besuch, blieb es zwar bei bekannten Bekundungen: "Ukraine kann auf Deutschland zählen", versicherte die Außenministerin. Doch es kam auch zu einer Premiere: Baerbock besuchte als erste Bundesaußenministerin die Frontlinie im Konfliktgebiet in der Ostukraine. Ein Signal des Zusammenhalts an die verstimmten Partner, die sich über das deutsche Nichtstun in der Krise wundern.
Bei regnerischem Wetter hielt sich Baerbock rund 40 Minuten an der Front zwischen der ukrainischen Armee und den von Russland unterstützen Separatisten auf. Sprach von "sehr bedrückenden Bildern" und "sehr bedrückenden Gefühlen" beim Besuch des verlassenen Orts Schyrokyne. Der Ort sei "ein Zeugnis dessen, dass wir mitten in Europa Krieg haben." Baerbock war erschüttert – und zeigte es auch.
"Chapeau", twitterte Karien Prien aus dem CDU-Bundesvorstand. "Eine überzeugende Geste, und die beste, die deutsche Außenpolitik in den letzten Monaten geboten hat." Eine Jungliberale gestand: "Parteibuch hin oder her: Diese Frau macht momentan einen guten Job."
Allerdings könnte auf die wachsenden Euphorie für die neue Außenministerin auch schnell Ernüchterung folgen – niemand dürfte das besser wissen, als Baerbock selbst.
...doch für eine Bilanz ist es zu früh
Als sie die Grünen als Spitzenkandidatin in den Wahlkampf führte, lag Hoffnung in der Luft, das Kanzleramt schien greifbar nah. Doch setzte sie dem einstigen Höhenflug durch mehrere Patzer und einer ungelenken Krisenkommunikation ein jähes Ende. Die Erwartungen an sie waren hoch. Und wurden enttäuscht.
Baerbock dürfte aus den Fehlern im Wahlkampf, die sie als sehr schmerzhaft bezeichnete, ihre Lehren gezogen haben. Eine davon könnte sein: Es kann noch viel passieren – und Begeisterung schnell ins Gegenteil umschlagen.
"Viel mehr als ihr Auftreten gibt es noch nicht zu bilanzieren", sagt daher auch der Politikwissenschaftler Thomas Jäger von der Universtät Köln zum stern, dafür sei es zu früh. "Aber darin, wie sie auftrat, hatte sie eine glückliche Hand."
Die Erwartungen an Baerbock als Außenministerin seien sehr niedrig gewesen, somit habe sie mit ihrem selbstbewussten Auftreten und ihrer Kritik an Russland und China punkten können. "Damit hob sie sich von Bundeskanzler Scholz ab, dessen eintöniges Schweigen ihr Auftrieb gab", so Jäger. "Sie konnte sich sogleich mit Personen zeigen, deren Anwesenheit sie aufwerteten, etwa US-Außenminister Anthony Blinken oder Russlands Außenminister Lawrow. Und da alles Reden folgenlos war, blieb sie ohne Verantwortung für irgendetwas." Das sei "gutes Marketing ohne greifbare Ergebnisse." Aber ob das gute Außenpolitik wird, bleibe abzuwarten.

Denn ihr ambitioniertes Auftreten sei noch keine Politik. Die müsse jetzt operativ aufgesetzt werden. "Aus der Festlegung, welche Ziele auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln konkret erreicht werden sollen, erwächst der Maßstab erfolgreicher Politik. Das muss sie in den nächsten Monaten vorlegen", meint der Politikwissenschaftler.
Vor allem in zwei Bereichen sehe der Experte Schwierigkeiten auf die deutsche Außenpolitik zukommen: Festigkeit, weil sie vor allem auf Geld und guten Willen setze. Und in der Außenwirtschaftspolitik, die für eine Exportnation von fundamentalem Interesse sei. "Bei Außenpolitik geht es immer auch um Arbeitsplätze, Handel und Investitionen. Die derzeit sichtbaren Schwerpunkte haben damit wenig zu tun", so der Experte.
Fotos aus den Zirkeln der Macht, ihr professioneller Auftritt, ein Kabinett, das bisher blass bleibt: Da fällt es leichter, herauszustechen. Ob die Begeisterung für Baerbock auch belastbar ist, wird sich noch zeigen müssen. Der Anfang ist gemacht.