Essay Die schwärzeste Versuchung der Generation Grün

Sie sind liberal, sie sind urban, sie sind gebildet - und sie haben immer grün gewählt. Nun stürzt das Ende des rot-grünen Projekts die Thirty-Somethings in eine schwere Sinnkrise. Welche Partei passt zu ihnen? Eine Inventur.

Irgendwo in den Dreißigern sind wir jetzt, wir Mitglieder der Generation Grün. Geboren zwischen 1965 und 1975. Wir sind Kinder des Westens, Erben der 68er, Enkel der Nazis. Wir sind der politische Flügel der Generation Golf, haben gegen Kohl gehetzt, gegen Schönhuber demonstriert, beim Bund Naturschutz Zivildienst geleistet und hatten früh schwule Freunde. Wir sind urban oder haben in Tübingen studiert. Wir sind globalisiert, Erasmus-erprobt, neugierig, liberal, weltoffen - und immer ein wenig verantwortungsbewusst. Jetzt haben auch wir fertig studiert, fangen an zu arbeiten, werden Väter und Mütter, sind arbeitslos.

Gewählt haben wir grün, fast immer. Die Grünen hatten die besseren Konzepte, die besseren Leute. Sie standen für einen besseren Stil, für eine bessere Politik, für eine bessere Welt. Das Augenzwinkern des Joschka Fischer, seine Turnschuhe, seine spitzen Tiraden, seine Selbstironie, dieser Anti-Kohl befriedigte nicht nur unseren Bedarf an politischer Rebellion - er vertrat auch unser Lebensgefühl.

Das Milieu verliert seine Partei

Damit ist jetzt Schluss. Seit Mai stecken wir in unserer bislang schwersten Sinnkrise. Das Ende von Rot-Grün markiert eine tiefe Zäsur - denn unsere Loyalität zu den Grünen steht in Frage, das Milieu verliert seine Partei.

Überraschend kommt diese Krise nicht. Zu offensichtlich war es schon lange, dass wir uns verändert haben. Früher trieb uns, die Erben, die moralisch hochwertige Sorge um Fauna, Flora und den Weltfrieden, heute, nach dem Ende der "New Economy", belasten uns Ängste um Job und Geld mehr als weltmoralische Selbstvorwürfe. Trotz aller geschniegelten Lebensläufe sind wir nur dort angekommen, wo die anderen schon lange warten: Auf einem leer gefegten Arbeitsmarkt. Plötzlich geht es nicht um Müll-Trennung und Öko-Strom, sondern um die Krankenversicherung, die Rente, die Steuer.

Die Grünen sind uns immer fremder geworden

Die Grünen sind uns dabei immer fremder geworden. Berauscht vom eigenen Erfolg sind sie träge geworden. In der ersten Periode Schröder erreichte die Partei fast alle ihre Ziele: Atom-Ausstieg, Homo-Ehe, Staatsbürgerschaftsrecht. Die Fischers und die Trittins machten die Außenseiter-Kultur - selbst für Christdemokraten - zur gesellschaftlichen Pflicht. Dann aber, in der zweiten Periode Schröder, war - pffff - die Luft raus. Die Chefs - Kuhn, Roth, Bütikofer und Wie-hieß-sie-noch-Beer - vernachlässigten uns. Auf der Regierungsbank nutzten sich die Grünen ab, passten sich an - an die Macht und ihre Riten. Den Ober-Joschka, unser einstiges Idol, trieb das Amt von der Ironie in den Zynismus. Auf seinem langen Weg zu sich selbst verschmolz er im Geiste mit Henry Kissinger, im Gehabe mit Helmut Kohl, dem Feindbild von einst. Wer Anfang der 1990er noch alles für eine Kneipentour mit Joschka gegeben hätte, freut sich heute auf Fischers Pensionierung.

Wir haben die Symptome der Entfremdung lange weg geschoben, verdrängt. Erst der schwarze Mai dieses Jahres, oder, noch konkreter: der 22. Mai, zwang uns zum Nachdenken. Um Punkt 18.23 Uhr beendete Franz Müntefering, das Sprachrohr des sozialdemokratischen Konservatismus', unsere Jugend.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Wir verhöhnten das Nationale und lebten Erasmus

Aber damit nicht genug. Nur eine Woche später zerbarst eine zweite Säule unserer Identität: Europa. Wir verhöhnten das Nationale, lebten Erasmus und liebten international. Die Europäische Union hatte uns, den unschuldigen Deutschen, immer als gleißendes Gegenbild zu dem verquasten Nationalstolz zu Hause gegolten - sie war unser Symbol für die Vision eines anderen, eines besseren Staates gewesen. Die düsteren Heilshoffnungen, die die Europäer der Kriegsgeneration mit Europa verbanden, waren uns fremd. Es ist vielleicht kein Zufall, dass es wieder Joschka Fischer war, der auch unserer Vision Europas Ausdruck verlieh – damals, im Mai 2000, als er an der Berliner Humboldt-Universität einen europäischen Endzustand skizzierte, eine "Finalität".

Perdu! Auch dieses Projekt ging im Mai 2005 den Bach hinunter. Die Franzosen versetzten der EU-Verfassung den Todesstoß - und entsorgten so die Vision eines europäischen Superstaates. Zu schnell war die Union erweitert worden, scheinbar grenzenlos, zu groß war sie geworden, die Kluft zwischen Europa und seinen Bürgern, zu sehr hatten sie sich unterschieden, die Sonntagsreden und die gefühlte Wirklichkeit. Die Grünen traf diese Entwicklung nicht mehr oder nicht weniger als die anderen Parteien - für uns, die kosmopolite Klientel jedoch, wurde ein weiterer Baustein unserer Identität zerstört.

Wir driften im politischen Universum

Und jetzt? Seit Mai driften wir im politischen Universum. Nie waren wir so verunsichert. Wo gehören wir hin? Wen sollen wir wählen? Wie Kometen schießen Köpfe und Programme auf uns zu. Die Zeit drängt. Am nächsten Sonntag wird gewählt - und bis dahin müssen wir uns entschieden haben. Wer kann uns, die Kinder der grünen Kultur, in Zukunft vertreten? Die Sozialdemokraten können uns kaum locken. Früher flüchteten wir vor ihrer dumpf-konservativen Gewerkschafter-Kultur, heute schreckt uns ihre Zerrissenheit. Allein der Dadaismus, den sich Müntefering erlaubte, als er dem Kanzler am Tag der Vertrauensfrage im Bundestags-Plenum Treue-Schwüre leistete, offenbarte eine waidwunde Partei. Irgendwo in der linken Kampfzone irrlichtern die Genossen, in die Enge getrieben eher von Lafontaines Neo-Populismus als von Merkels Neo-Ehrlichkeit. Schwer und kraftlos schwanken sie zwischen steifem Reform-Bekenntnis, ehernem Traditionalismus und den Ideen einiger weniger, junger und linker Pragmatiker. Die Leere der Sozialdemokratie kann auch das letzte Gefecht ihres Kanzlers, die letzte Schlacht Gerhard Schröders, nicht überdecken. Weshalb sollten die Sozialdemokraten, nach sieben Jahren Probezeit, noch einmal regieren dürfen? Selbst Müntefering und Schröder können das trotz allem nicht überzeugend erklären. Erst wirkten sie in diesem Wahlkampf, als sehnten sie den Gnadenschuss der Wähler herbei, nun profitieren sie von den erschreckenden Schwächen der Union.

Auf den stickigen Seniorenmief der Linkspartei reagieren wir pikiert

Auch das Linksbündnis ist nichts für uns. Schon auf den stickigen Arbeiter- und SED-Seniorenmief der PDS/WASG reagieren wir, die verdrossenen Bourgeois, pikiert. Aber das allein ist es nicht, denn ein Teil unserer bitteren Wirklichkeit besteht auch darin, dass viele von uns längst auf das Einkommens-Niveau des Proletariats gestürzt sind - nur unser Erbe sorgt für einen Puffer. Nein, es ist vielmehr dieser derbe, populistische Feldzug Lafontaines, der uns abschreckt und anwidert. Diesem Rattenfänger wollen wir nicht folgen. Das wäre ein Sündenfall, ein Verrat an der Vernunft. Eigentlich unvorstellbar. Aber was bleibt, wenn uns die Linke verschreckt? Wo sollen wir hin? Nichtwählen ist keine Option, das käme einer Selbstentmündigung gleich. Was sollen wir tun? Sollen wir es wagen, nicht nur ein bisschen fremd zu gehen, nicht nur zu kokettieren, sondern wirklich das Bett zu wechseln, das letzte Tabu zu brechen? Sollen wir hemmungslos werden, uns frei machen vom Ballast der achtziger und neunziger Jahre, die grüne Kulturrevolution verraten? Sollen wir uns Westerwelles FDP oder gar Merkels Union an Brust und Busen werfen?

Die Liberalen machen es den Liberalen schwer

Die FDP, so erscheint es, macht es uns leicht. Sie hat auch in diesem Wahlkampf die Chance vergeben, uns eine liberale Heimat zu bieten. Eine offene, freigeistige Debatte hätten wir uns gewünscht, eine Diskussion über Bürgerrechte und die Grenzen des Wirtschaftsliberalismus. Was haben wir gekriegt? Einen zusammengewürfelten Wahlkatalog, wirklichkeitsferne Steuerversprechen - und einen staatstragenden Wolfgang Gerhardt. Die FPD wirkt seltsam leblos dieser Tage, wie eine gelbe Hülle, deren Bedeutung sich schon jetzt alleine aus der kommenden Regierungsbeteiligung ableitet. Ausgerechnet den Liberalen, die einst wie keine andere Partei für standesbewusste Ernsthaftigkeit und Seriosität standen, haftet weiter der Möllemannsche Ruch des Unseriösen an, des Halbseidenen. Westerwelle hat es nicht geschafft, sich davon zu lösen, ein anderer wirkungsmächtiger Impulsgeber fehlt. Die Liberalen machen es den Liberalen schwer, sie zu wählen.

Das Kreuz bei den Erben Kohls und Strauß'

Vielleicht sind die Konservativen ohnehin die besseren Liberalen, die Radikaleren, die Moderneren. Runter mit den Lohnnebenkosten, rauf mit der Mehrwertsteuer, weg mit dem Kündigungsschutz, her mit Kirchhof. Weg auch mit alten Feindbildern? Vielleicht wäre es ein Zeichen unserer Reife, wenn wir das Kreuz bei den Erben Kohls und Strauß' machten, bei jener C-Kombo, die uns früher so nah war wie der Mars. Unser Geist, jedenfalls, ist willig wie nie zuvor, der schwarzen Versuchung nachzugeben. Was spräche auch dagegen? Ihre national-romantischen bis national-extremistischen Flügel haben CDU und CSU längst gestutzt, die Errungenschaften der grünen Kultur, vom Umweltschutz bis zur Homo-Ehe, haben sie brav verinnerlicht – und das christliche Weltbild, mit dem sich viele von uns ohnehin gut identifizieren können, verkaufen sie unter dem Ladentisch. Die Union ist im Prinzip eine liberale Partei, die sich, wie auch die SPD, um eine Lösung der Verteilungsfragen bemüht und dafür gemäßigte Vorschläge unterbreitet.

Die Union ist erstmals eine echte Alternative

Erschwerend kommt die Sache mit der Ehrlichkeit hinzu. Sicher, es fällt uns leicht, die Brutto-Schwächen der Machiavellistin Merkel anzuprangern oder uns an den Kapriolen des linkisch-patzigen Bayern-Fürsten Stoiber zu ergötzen. Aber wir können nicht leugnen, dass die beiden sich zumindest um finanzielle Redlichkeit bemühen. Die SPD verspricht alles, was man sich als Wähler nur wünschen kann, die Union scheint zumindest auf die Rechnung zu sehen. Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen: Diesmal ist die Union auch für den Wahltag eine echte Alternative - auch wenn einem die Fingermuskulatur allein bei dem Gedanken verkrampft, den Stift in die schwarze Tabuzone zu führen. Darüber hinaus gibt es noch ein wahltaktisches Argument. All jene, die weder für eine große Koalition noch für ein rot-rot-grünes Bündnis Sympathien hegen, können im Prinzip nur Union oder FDP wählen. Die FDP fällt flach, bleibt die Union.

Wie stark wirkt der Reflex?

Aber wie stark wirkt der Reflex, der uns daran hindert, CDU oder CSU zu wählen? Wie stark wirkt sie nach, die grüne Kultur unserer Jugend? Können wir der Partei nun wirklich den Rücken kehren, sie endgültig verlassen, sie abstrafen?

Im Mai waren wir noch skeptisch, mittlerweile haben sie uns wieder umgarnt. Dabei waren es weder Fischers Rhetorik noch seine Abschiedsreise im grünen Bus, die uns einander wieder näher brachte. Es war vielmehr, so dröge das klingt, der Programm-Parteitag. Für und wider Mehrwertsteuer-Erhöhung, für und wider Fischer - die Grünen waren die einzigen, die sich kontrovers und öffentlich über ihr Programm stritten - und der Versuchung widerstanden, einen radikal-linken Kurs einzuschlagen. Noch immer sind sie keine Arbeitsmarkt-Spezialisten, noch immer fehlt ihnen ein Gewinner-Thema. Aber dennoch haben sie es geschafft, die Arbeitsmarktpolitik zur Priorität zu erklären, ohne die Ökologie opportunistisch über Bord zu werfen. Sie haben sich zur Sperrigkeit bekannt. Gleichzeitig haben sie Distanz gehalten zu linkem Populismus und Stammtisch-Parolen. Uns gibt das Hoffnung, denn offenbar haben die Grünen ihn noch nicht ganz vergessen, jenen aufgeklärten Pragmatismus, der sie einst mächtig gemacht hat. Auch ihre realistische Selbsteinschätzung ist ein Beleg für ihre Rückkehr auf den Planeten Erde. Schon jetzt werben sie mehr oder minder offen damit, dass sie die Oppositionsrolle künftig wirkungsmächtig ausfüllen werden.

Ein leises Servus

Vielleicht hilft uns das alles, der schwärzesten Versuchung unseres politischen Lebens zu widerstehen. Vielleicht geben wir den Grünen nun doch noch eine Chance - eine Gelegenheit, sich aus gesicherter Position heraus zu reformieren, endlich eine neue Vision des Landes und Europas zu skizzieren. Vielleicht haben sie die Kraft, sich neu zu orientieren, inhaltlich und auch strategisch. Vielleicht haben Fischers Erben auch den Mumm dazu, sich und uns auf neue Zukunftsprojekte vorzubereiten, eine schwarz-grüne Koalition im Bund etwa. Vielleicht schulden wir, das grüne Milieu, dieser Partei sogar ein Abschiedsgeschenk - eine Legislaturperiode, vier Jahre im Bundestag, um sich neu zu erfinden. Es wäre ein leises, melancholisches Servus.