Von der Aufregung, die der Kämmerer aus Kassel bundesweit verursacht, ist am Sonntagmittag nichts zu spüren. Matthias Nölke sitzt in einem kleinen gelben Sessel in der "Rhön Residence" einige Kilometer außerhalb von Fulda, der Blick geht hinaus auf Wiesen und Wald. Für die Klausurtagung der Kasseler FDP-Rathausfraktion wollten sie mal raus ins Idyllische, erklärt Nölke, während draußen der Regen gerade zu Schneeflocken gefriert.
Das Wetter passt sehr gut zur Stimmung, die Nölke gerade aus Teilen seiner Partei entgegenschlägt. Zwei Tage zuvor hat ihn die Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann indirekt als Nestbeschmutzer bezeichnet, Bayerns FDP-Landeschef spricht von einem Misstrauensvotum gegen Parteichef Christian Lindner, und die Medien schreiben vom "Rebellen".
Was hat Nölke getan?

Der 43-Jährige, ehemals Abgeordneter im Bundestag, heute für die Finanzen in Kassel verantwortlich, hat Unterschriften gesammelt. Vor einer Woche hat er die magische Grenze von 500 überschritten. So viele braucht man laut Satzung der FDP, um eine Befragung aller Parteimitglieder zu erzwingen.
Worüber Nölke abstimmen lassen will: Ob die FDP in der Regierung bleiben oder das Bündnis mit SPD und Grünen nicht besser verlassen soll. Für Nölke ist die Sache glasklar. "Ampel-beenden.de" hat er die Webseite genannt, über die FDP-Mitglieder im ganzen Land den Antrag herunterladen und per Post nach Kassel schicken können.
FDP-Spitze kann Ergebnis schlecht ignorieren
In der Bundespolitik kann diesen Aufstand von der FDP-Basis gerade eigentlich niemand gebrauchen. Zwar ist das Ergebnis, egal wie es ausgeht, für die Parteiführung am Ende nicht bindend. Doch wenn sich eine überwältigende Mehrheit der FDP-Mitglieder für den Austritt aussprechen sollte, könnte sie das Votum schlecht ignorieren. Auch für SPD und Grüne kommt die Sache nicht gelegen, liefert sie doch der FDP im Haushaltsstreit ein Argument mehr, den Fuß auf der Schuldenbremse zu lassen.
Denn weicht Lindner von der Schuldenbremse für 2024 ab, dürfte das den Unmut an der FDP-Basis noch vergrößern. Die Stimmung ist jetzt schon schlecht: In den vergangenen Monaten flogen die Liberalen in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Hessen aus der Regierung, in Bayern und Niedersachsen gleich ganz aus dem Parlament. Viele machen die gemeinsame Regierung mit SPD und Grünen im Bund dafür verantwortlich. "Die Ampel war von Anfang an eine Totgeburt", sagt Nölke, der in Kassel in einer Jamaika-Koalition mit CDU und Grünen regiert. "Niemand braucht eine ergrünte FDP."
Seine Diagnose: Die FDP-Wähler seien konservativer, als sich die Bundespartei das zu Beginn der Ampel eingeredet habe. Kürzlich, im Wahlkampf in Hessen, habe er das deutlich gemerkt: "Leute fragten uns: Warum darf ich künftig mein Geschlecht frei aussuchen, aber nicht, welche Heizung ich im Keller haben darf?"
Nölke: "Die FDP hat leider verlernt, zu performen"
Er könne den eigenen Wählern die Politik der Ampel nicht mehr vermitteln, sagt Nölke. Die hätten das Gefühl: "Wir verhelfen nur rot-grünen Themen zur Mehrheit." Bei den Kernthemen der FDP hingegen, Wachstum, Inflation, Digitalisierung, Bildung, sei man in Deutschland weiterhin Schlusslicht. "Die FDP hat leider verlernt, zu performen. Wir haben die Inhalte, aber wir bringen die PS nicht auf die Straße."
Dass er damit den Parteichef frontal angreift, streitet Nölke zwar ab, das sei "kein Misstrauensvotum gegen Christian Lindner". Gleichzeitig erhöht er aber den Druck: Die Parteispitze könnte ja auch selbst auf die Idee kommen, die richtigen Schlüsse zu ziehen, so sieht es der Mann aus Kassel. "In der Außenwirkung ist es nicht günstig, wenn die Parteiführung zu dem Schritt von der Basis gedrängt werden muss", sagt Nölke. "Aber das hat Berlin in der Hand." Es klingt wie eine Warnung.
Bislang habe er aus dem Hans-Dietrich-Genscher-Haus in Berlin noch nicht gehört, wann und an wen er seine Unterschriften übergeben kann. Er will die Anträge gern persönlich nach Berlin fahren, sagt er und verbindet auch das mit einem Seitenhieb: "denn leider ist heutzutage weder auf die Post noch auf die Bahn mehr Verlass."