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Kassem Taher Saleh Grüne nach EU-Asylkompromiss: "Viele Mitglieder sind schwer enttäuscht, auch ich"

Kassem Taher Saleh, 29, Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen
Kassem Taher Saleh, 30, Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen
© Jean MW/Geisler-Fotopress/ / Picture Alliance
Die EU-Innenminister haben sich auf eine Verschärfung des EU-Asylrechts geeinigt. Die Grünen stellt das vor eine Zerreißprobe, sagt der Bundestagsabgeordnete Kassem Taher Saleh. Er wirft der Führungsriege eine Abkehr von Parteigrundsätzen vor.

Am Donnerstagabend steht die Einigung: Die EU-Innenminister haben sich auf eine umfassende Reform der europäischen Asylpolitik verständigt – und damit auf einen deutlich härteren Umgang mit Migranten ohne Bleibeperspektive (welche Maßnahmen beschlossen wurden, lesen Sie hier). Schon kurz darauf zeichnet sich ab, dass den Grünen ein Großkonflikt droht. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, zum Zeitpunkt der Einigung in Kolumbien, änderte kurzerhand ihr Programm, um ihre Partei beruhigen (der stern berichtete). 

"Ja, das ist eine Zerreißprobe", sagt Kassem Taher Saleh. Der grüne Bundestagsabgeordnete, der 2003 als Kind mit seiner Familie aus dem Irak nach Deutschland floh, ist von der Parteiführung schwer enttäuscht. Insbesondere die geplanten Grenzverfahren hält er für hochproblematisch. "Das ist mit den europäischen Werten nicht vereinbar, ebenso wenig mit denen der Bundesregierung", sagt er.   

Herr Taher Saleh, die 27 Mitgliedstaaten haben sich auf eine grundlegende Reform der europäischen Asylpolitik verständigt. Wie würden sie einem Laien erklären, was dort beschlossen wurde? 

Kassem Taher Saleh: In Luxemburg hat sich eine heterogene Gemeinschaft an Staaten, darunter auch eine faschistische Regierung aus Italien oder eine autoritäre aus Ungarn, auf haftähnliche Lager an den Außengrenzen verständigt. Das ist mit den europäischen Werten nicht vereinbar, ebenso wenig mit denen der Bundesregierung, die sich im Koalitionsvertrag ganz andere Standards gesetzt hat. Hauptziel hätte sein müssen, dass wir am Ende einen europäischen Verteilmechanismus haben, der Schutzsuchenden unsere Solidarität zeigt.

Ein zentraler Bestandteil der Einigung sieht Asylverfahren an den EU-Außengrenzen vor. Das soll zu einem Rückgang von Einreisen von Menschen mit geringen Aufnahmechancen führen. Was würden die Reformpläne für Geflüchtete bedeuten?

Die Grenzverfahren sind hochproblematisch. Es gibt viele offene Fragen, zum Beispiel: Wie sollen die Aufnahmeeinrichtungen überhaupt aussehen? Wo schlafen die Menschen, die dort untergebracht werden? Wird es auch Schulen geben? Die Geflüchteten werden Monate, wenn nicht sogar Jahre unter haftähnlichen Bedingungen verbringen müssen.

Im Normalfall soll innerhalb von zwölf Wochen geprüft werden, ob der Antragsteller Chancen auf Asyl hat. Wenn nicht, würde er umgehend zurückgeschickt. So jedenfalls die Theorie.

Im Flüchtlingslager Moria sollte dieser Prozess wenige Monate dauern – und Menschen sind dort jahrelang versickert.

Ja, das ist eine Zerreißprobe

Die Ampel-Koalition hat die Grenzverfahren im Grundsatz unterstützt, also auch die grünen Minister. Wie würden Sie den verschärften Kurs Ihrer Partei im Umgang mit Geflüchteten erklären? 

Das würde ich nicht auf die Grünen insgesamt schieben. Die Partei hat am Montag einen Brief veröffentlicht…

…in dem Hunderte Grünen-Mitglieder die Asylrechtsreform scharf kritisieren…

…der an die Partei- und Fraktionsvorsitzenden sowie Robert Habeck und Annalena Baerbock adressiert ist. Die Grünen-Spitze trägt den Kurs mit, nicht die Partei. Ich bin 2019 vor allem wegen der menschenrechtsbasierten Asylpolitik in die Partei eingetreten und sehe auch eine breite Basis bei uns, die deswegen gegen diese Reform ist.

Sie werfen der Grünen-Spitze eine Abkehr von grünen Grundsätzen vor?

Mit Blick auf das Parteiprogramm und den Koalitionsvertrag: ja.

Was erwarten Sie nun von der Grünen-Spitze?

Ich erwarte nun den Einsatz für eine möglichst gute Lösung im Trilog durch unsere grüne Fraktion im Europaparlament.

Undwas bedeutet diese Einigung für Ihre Partei? Stehen die Grünen nun vor einer Zerreißprobe?

Ja, das ist eine Zerreißprobe. Wir müssen als Partei jetzt in die Klärung gehen, wie wir mit dieser Situation umgehen. Viele Mitglieder sind schwer enttäuscht, auch ich.

Die grüne Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hatte im Vorfeld erklärt, den Grenzverfahren zwar kritisch gegenüberzustehen, darin aber die einzig realistische Chance zu sehen, überhaupt zu einem geordneten und humanen Verteilungsverfahren zu kommen. Sie argumentierte: Ohne Ordnung an den Außengrenzen sei es nur eine Frage der Zeit, bis ein Land nach dem anderen wieder über Binnengrenzkontrollen redet.

Ich respektiere diese Sorge, aber es muss rote Linien geben. Die hätten wir Grünen klarer machen sollen, auch Annalena Baerbock.

Wo muss die rote Linie der Grünen liegen?

Es darf keine haftähnlichen Lager geben. Im Koalitionsvertrag haben wir uns darauf geeinigt, die Standards für Schutzsuchende zu verbessern und das Leid an den Außengrenzen zu beenden. Für mich ist klar: Mit den Lagern verschlimmern wir das Leid und treten das Recht auf Asyl mit Füßen, weil wir die Menschen de facto in Haft stecken.   

Die Situation belastet mich, vor allem emotional

Wie müsste die Reform der europäischen Asylpolitik eigentlich aussehen?

Erstens: Es braucht einen europäischen Verteilmechanismus, der wirklich solidarisch ist. Länder wie Ungarn und Polen, die am liebsten gar keine Geflüchtete aufnehmen wollen – außer Ukrainer –, dürfen sich nicht freikaufen können, wie es nun beschlossen wurde. Diese Länder können nicht einerseits die Hand aufhalten, wenn es um Gelder geht, von denen sie profitieren – und andererseits so tun, als sei man nicht Teil der EU, wenn es um die Verteilung von Geflüchteten geht. Zweitens: Wir brauchen eine staatlich organisierte Seenotrettung und müssen für sichere Fluchtrouten sorgen. Nur so schaffen wir es, den illegalen Schleppern Handschellen anzulegen und ertrinkende Menschen im Mittelmeer zu verhindern. 

Sie selbst sind 2003 als Zehnjähriger mit Ihrer Familie aus dem Irak geflohen. Wie würden Sie die Verschärfungen als jemand bewerten, der einst selbst Schutz gesucht hat?

Das trifft mich ehrlicherweise sehr hart. Ich bin kein Aktivist mehr, ich bin nun Parlamentarier, muss mich dementsprechend verhalten. Trotzdem: Die Situation belastet mich, vor allem emotional.

Werden Schutzsuchende nun nicht mehr den oft gefährlichen Weg nach Europa unternehmen?

Nein. Fluchtbewegungen wird es nach Europa geben, ganz egal, wie hoch die Zäune oder Mauern sind. Essenziell ist, dass das Leid der Menschen endet. Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen. Darauf müssen wir alle Energie setzen – und nicht auf Abschreckung und Abschottung.

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