Flugblatt-Affäre Aiwangers Woche voller Wendungen und Windungen

Hubert Aiwanger (Freie Wähler), Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident in Bayern
Hubert Aiwanger (Freie Wähler), Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident in Bayern
© Uwe Lein / DPA
Innerhalb einer Woche hat sich die politische Lage in Bayern dramatisch verändert. Jeden Tag kommen neue Fragen zur Flugblatt-Affäre um Vizeregierungschef Hubert Aiwanger auf – der eine ebenso facettenreiche Verteidigungsstrategie verfolgt. 

Erst hatte er nichts damit zu tun. Dann irgendwie schon, aber auch nur wegen seines Bruders. Und ist das nicht sowieso alles eine Schmutzkampagne? Es ist praktisch unmöglich, die Ereignisse in der Flugblatt-Affäre um Hubert Aiwanger kurz und knapp auf den Punkt zu bringen. Jeden Tag kommen neue Details und Fragen zu dem antisemitischen Pamphlet auf, das die politische Lage in Bayern auf den Kopf stellt.

Wenige Wochen vor der Landtagswahl steckt Ministerpräsident Markus Söder (CSU) in einem Dilemma (über das Sie hier mehr lesen können), während sein Stellvertreter Hubert Aiwanger (Freie Wähler) um sein politisches Überleben kämpft. Mit Erfolg? Aiwangers Verteidigungsstrategie ist ebenso facettenreich wie die Geschehnisse der vergangenen sieben Tage. Der Versuch eines Überblicks, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Viele Fragen zur Flugblatt-Affäre

Freitag, 25.8.: Die "Süddeutsche Zeitung" berichtet, dass Aiwanger als Schüler ein antisemitisches Flugblatt verfasst und an seinem damaligen Gymnasium ausgelegt haben soll. Mehrere Exemplare seien in seiner Schultasche gefunden worden. Außerdem soll er als Urheber des Pamphlets zur Verantwortung gezogen worden sein. Aiwanger bestreitet die erhobenen Vorwürfe und lässt über einen Sprecher ausrichten, dass er "so etwas nicht produziert" habe und gegen die "Schmutzkampagne" im Falle einer Veröffentlichung rechtlich vorgehen werde.

Samstag, 26.8.: Nach Aufklärungs-Forderungen, unter anderem von Ministerpräsident Markus Söder (CSU), meldet sich Aiwanger selbst zu Wort. In einem schriftlichen Statement weist er die Vorwürfe wiederholt zurück, das Flugblatt – dessen Inhalt er nun als "ekelhaft und menschenverachtend" bezeichnet – verfasst zu haben. Gleichzeitig räumt er ein, dass "ein oder wenige Exemplare" in seiner Schultasche gefunden wurden. Auch Disziplinarmaßnahmen der Schule gesteht er ein. Ob er "einzelne Exemplare" weitergegeben habe, sei ihm "heute nicht mehr erinnerlich". Aiwanger fügt hinzu, dass ihm der Verfasser des Papiers bekannt sei, "er wird sich selbst erklären". Damals wie heute sei es nicht seine Art, "andere Menschen zu verpfeifen".

Samstag, 26.8.: Wenig später sagt sein ein Jahr älterer Bruder, Helmut Aiwanger, der "Passauer Neuen Presse": "Ich bin der Verfasser des in der Presse wiedergegebenen Flugblattes." Er distanziere sich "in jeder Hinsicht von dem unsäglichen Inhalt", er sei damals "total wütend" gewesen, weil er in der Schule durchgefallen und aus seinem "Kameradenkreis herausgerissen" worden sei. "Ich bedauere die Folgen der Aktion."

Montag, 28.8.: Nach den Erklärungen seines Stellvertreters beruft Ministerpräsident Söder eine Sondersitzung des Koalitionsausschusses für Dienstagvormittag ein. Man habe Aiwangers Erklärung zur Kenntnis genommen, sagt Staatskanzleichef Florian Herrmann (CSU). Die Vorwürfe seien zu ernst, als dass sie der stellvertretende Ministerpräsident "nur schriftlich äußert und entscheidende Fragen unbeantwortet lässt", teilt Herrmann mit. Aiwanger müsse sich "persönlich und umfassend" erklären. Es gehe um das Ansehen Bayerns.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Montag, 28.8.: Wieder meldet sich Bruder Helmut Aiwanger zu Wort, dieses Mal in den Zeitungen der Mediengruppe Bayern. Nach seinen Aussagen könnte das Flugblatt in der Schultasche von Hubert Aiwanger gefunden sein, weil er es wieder einsammeln wollte. "Ich bin mir nicht mehr ganz sicher", sagt Helmut Aiwanger. "Aber ich glaube, dass Hubert sie wieder eingesammelt hat, um zu deeskalieren."   

Der Druck auf Hubert Aiwanger wächst

Dienstag, 29.8.: Ministerpräsident Söder erhöht den Druck auf Aiwanger. Sein Vize soll einen Katalog mit 25 Fragen schriftlich und zeitnah beantworten, sagt Söder nach dem Koalitionsausschuss. Aiwanger habe zugesagt, die Fragen "rasch" zu beantworten – eine konkrete Frist nennt Söder nicht. "Bis zur abschließenden Klärung, solange kein neuer Beweis vorliegt oder bisher Gesagtes komplett widerlegt werden kann, wäre eine Entlassung aus dem Amt eines Staatsministers ein Übermaß", sagt Söder. Es dürften "keine Restzweifel" bleiben. Aiwanger selbst meldet sich zunächst nicht zu Wort.

Mittwoch, 30.8.: Erstmals seit vier Tagen gibt es auf Aiwangers Profil auf X (ehemals Twitter) einen neuen Eintrag: "Schmutzkampagnen gehen am Ende nach hinten los."

Mittwoch, 30.8.: In der Flugblatt-Affäre stehen neue Vorwürfe gegen Aiwanger im Raum. Als Schüler soll er beim Betreten des schon besetzten Klassenzimmers ab und zu "einen Hitlergruß gezeigt" haben, sagt ein damaliger Mitschüler zum ARD-Magazin "Report München". Dem Mitschüler zufolge soll Aiwanger "sehr oft diese Hitler-Ansprachen" in diesem "Hitler-Slang" nachgemacht haben. Auch judenfeindliche Witze seien "definitiv gefallen". Ministerpräsident Söder fordert Aiwanger daraufhin noch einmal auf, dass alle Fragen "zweifelsfrei geklärt" werden müssten. "Da darf kein Verdacht übrig bleiben", sagt Söder am Rande eines Termins – das gelte auch für die "neuen Vorwürfe".

Mittwoch, 30.8.: Aiwanger reagiert. Nach seinen Angaben kann er sich nicht erinnern, als Schüler den Hitlergruß gezeigt zu haben. "Mir ist nicht im Entferntesten erinnerlich, dass ich so etwas gemacht haben soll", sagt Aiwanger zur "Bild"-Zeitung. Er sei "weder Antisemit noch Extremist". Was in dem Flugblatt stehe, "ist wirklich abscheulich". Er. sei "aus tiefstem Herzen Demokrat und Menschenfreund".

Mittwoch, 30.8.: Am Rande eines öffentlichen Auftritts äußert sich Aiwanger ausführlicher. "Es ist auf alle Fälle so, dass vielleicht in der Jugendzeit das eine oder andere so oder so interpretiert werden kann, was als 15-Jähriger hier mir vorgeworfen wird", sagt er zum TV-Sender "Welt" im Beisein auch anderer Journalisten. "Aber auf alle Fälle, ich sag seit dem Erwachsenenalter, die letzten Jahrzehnte: Kein Antisemit, kein Extremist, sondern ein Menschenfreund." Er sei Demokrat. "Und insofern sage ich das wirklich, dass ich hier für die letzten Jahrzehnte alle Hände ins Feuer legen kann." Gefragt nach Rückmeldungen, die er aktuell bekomme, sagt Aiwanger: "Ich habe sehr, sehr überwiegend die Aussage, dass hier eine Schmutzkampagne gefahren wird und dass ich hier politisch und auch persönlich zerstört werden soll."

Mittwoch, 30.8.: Es werden weitere Vorwürfe gegen Aiwanger laut. Auf Aiwangers Account im Online-Netzwerk X (ehemals Twitter) wird am späten Abend folgende Nachricht veröffentlicht: "Es wird immer absurder. Eine andere Person behauptet, ich hätte Mein Kampf in der Schultasche gehabt. Wer lässt sich solchen Unsinn einfallen!?" Die "Süddeutsche Zeitung" hat zuvor eine nicht namentlich genannte frühere Mitschülerin Aiwangers zitiert, dieser habe oft Adolf Hitlers "Mein Kampf" in der Schultasche mit sich geführt. Sie könne dies bestätigen, weil sie das Buch selbst in der Hand gehalten habe. "Ich war noch nie Antisemit oder Extremist", sagt Aiwanger am Abend zur Deutschen Presse-Agentur. "Vorwürfe gegen mich als Jugendlicher sind mir nicht erinnerlich, aber vielleicht auf Sachen zurückzuführen, die man so oder so interpretieren kann", fügt der 52-Jährige hinzu.

Der Gegenangriff

Donnerstag, 31.8.: Aiwanger lädt kurzfristig zu einer persönlichen Stellungnahme ein, anschließende Fragen von Journalisten sind nicht zugelassen. Aiwanger entschuldigt sich erstmals öffentlich in der Flugblatt-Affäre. "Ich bereue zutiefst, wenn ich durch mein Verhalten in Bezug auf das in Rede stehende Pamphlet oder weitere Vorwürfe gegen mich aus der Jugendzeit Gefühle verletzt habe", sagt Aiwanger. Von einem möglichen Rücktritt ist keine Rede. In Bezug auf die Vorwürfe bleibt er bei seiner bisherigen Darstellung: Weder habe er das Flugblatt verfasst, noch könne er sich daran erinnern, als Schüler den Hitlergruß gezeigt zu haben. "Weitere Vorwürfe wie menschenfeindliche Witze kann ich aus meiner Erinnerung weder vollständig dementieren oder bestätigen", sagt Aiwanger. "Sollte dies geschehen sein, so entschuldige ich mich dafür in aller Form." Er beklagt, dass seine "Verfehlungen" zu einer "politischen Kampagne" instrumentalisiert würden. "Ich habe den Eindruck, ich soll politisch und persönlich fertig gemacht werden."

Donnerstag, 31. 8.: In einem Interview mit der "Welt" bezeichnet Aiwanger die Vorwürfe gegen ihn als Missbrauch der Judenverfolgung im Nationalsozialismus. "In meinen Augen wird hier die Shoa zu parteipolitischen Zwecken missbraucht", sagt er. Er sei überzeugt, dass die Freien Wähler durch die Vorwürfe "geschwächt und Stimmen auf andere Parteien gesteuert werden" sollen. Auf die Frage, weshalb das Flugblatt in seiner Schultasche gefunden worden war, antwortet Aiwanger: "Mir fehlt schlichtweg die Erinnerung." Auf die Frage, ob er ausschließen könne, das Flugblatt verteilt zu haben, sagt er: "Das kann ich nicht mehr einordnen." Angesprochen auf das TV-Interview, in dem Aiwanger gesagt hat, "in den letzten Jahrzehnten" kein Antisemit gewesen zu sein, entgegnet er: "Das war von mir in einem Kamerainterview zwischen Tür und Angel missverständlich formuliert. Ich war nie ein Antisemit."

Freitag, 1.9.: Ministerpräsident Söder nennt die Entschuldigung Aiwangers überfällig – und erhöht den Druck auf seinen Vize, den Katalog mit Fragen zeitnah zu beantworten. "Und zeitnah heißt am besten noch heute, im Laufe des Tages", sagt Söder am Rande eines Termins. "Die Entschuldigung gestern war dringend notwendig. Es bleiben aber noch viele Fragen offen."

Freitag, 1.9.: Aiwanger verteidigt sich bei einem Bierzeltauftritt in Niederbayern einmal mehr. "Jawohl, auch ich habe in meiner Jugend Scheiß‘ gemacht. Jawohl, ich habe auch Mist gemacht", sagt er. Und weiter: "Das Flugblatt war scheußlich, das ist nicht wegzudiskutieren." Er finde es aber nicht in Ordnung, jemanden später in seinem Leben mit Dingen, die 35 bis 40 Jahre zurückliegen, zu konfrontieren "bis zu seiner beruflichen Existenzvernichtung". Es gebe viele Dinge, die man im Nachhinein nicht mehr machen würde. Aber man müsse einem Menschen auch zubilligen, im Leben gescheiter zu werden. Er spricht erneut von einer Schmutzkampagne gegen ihn, "vielleicht, um die Grünen in die Landesregierung zu bringen".

Mit Material der Nachrichtenagentur DPA