Parteiabspaltung Die neuen Linken

Konkurrenz für die Genossen: Frustrierte Gewerkschafter wollen mit einer eigenen Partei Gerhard Schröders Reformpolitik kippen. Die "Wahlalternative" hat Chancen - die SPD ist schon jetzt nervös.

Lag es am Teppich im Dietrich-Bonhoeffer-Haus in Berlin, der so merkwürdig zwischen Braun und Violett changierte, wo doch jetzt überall Parkett angesagt ist? Oder an Worten wie "Konjunkturprogramm" oder "Arbeitszeitverkürzung", die man lange nicht mehr gehört hat in Deutschland? Die ganze Szenerie, in der am vergangenen Wochenende rund 40 Aktivisten die "Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit" gründeten, hat den Beobachtern Rätsel aufgegeben. Was hat man da erlebt? Die Wiederauferstehung der 70er Jahre? Oder doch etwas ganz Neues - vielleicht sogar den Anfang vom Ende der Ära Schröder?

Gut zwei Jahre vor der Bundestagswahl wagen Linksabweichler aus SPD und Gewerkschaften mit der "Wahlalternative" den ersten ernst zu nehmenden Versuch, parteipolitisch Front zu machen gegen Gerhard Schröders Agenda 2010, gegen Rentenkürzungen und Arbeitsmarktreformen. "Der Druck ist enorm groß, die Menschen wollen jetzt endlich eine wählbare Alternative", sagt einer der Initiatoren, der IG-Metall-Funktionär Klaus Ernst aus Schweinfurt.

10.000 Interessenten auf Unterstützerlisten

10.000 Interessenten haben sich bereits auf Unterstützerlisten eingetragen, bundesweit bestehen 70 Arbeitsgruppen - bei manchen sind es gerade mal fünf Leute, die sich regelmäßig treffen, aber in Nordrhein-Westfalen gibt es auch schon schlagkräftige Teilverbände von 50 und mehr Mitstreitern. Zwar liegt der Schwerpunkt im Westen - aber den Osten wollen die Neugründer keinesfalls der PDS überlassen.

Ob sie künftig als Partei antreten, werden sie spätestens im Herbst entscheiden, nach den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen. Verliert die SPD auch dort, sehen sie ihre Chance - erstmalig bei den NRW-Landtagswahlen im Frühjahr 2005. "Die Breite der Unzufriedenheit ist jedenfalls enorm", sagt Sabine Lösing, Verdi-Mitglied und Attac-Aktivistin. "Wir haben jetzt zum ersten Mal seit Jahren die realistische Chance, das neoliberale Denken aufzuknacken." Noch sind die Wahlforscher uneins, welches Potenzial eine solche Linkspartei für sich mobilisieren könnte. Sechs Prozent würden sie wählen, ermittelte Infratest, sogar 38 Prozent könnten sich dies zumindest unverbindlich vorstellen.

Skeptischer ist Manfred Güllner, Chef von Forsa. "Die haben keine Chance, in die Parlamente zu kommen", sagt Güllner und taxiert das Wählerpotenzial auf maximal 1,5 bis zwei Prozent. Trotzdem sei die Linksabspaltung nicht zu unterschätzen: "Bei der Bundestagswahl 2006 können das die entscheidenden Stimmen sein, die Schröder fehlen. Insofern kann die ,Wahlalternative" für die SPD tödlich sein."

"Verlängerter Arm der sozialen Bewegungen"

Seit Oskar Lafontaine als Parteichef hingeschmissen hat, sehen die Gründer der "Wahlalternative" die SPD auf dem falschen Kurs. Damit, so die Analyse, sei die Sozialdemokratie auch nicht mehr natürlicher Partner der Gewerkschaften. Jetzt wollen sie die Parlamente kurzerhand selbst stürmen - als "verlängerter Arm der sozialen Bewegungen" und "Partei der Gewerkschaften".

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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140 Jahre schritten organisierte Arbeitnehmer und Sozialdemokratie Seit an Seit. Jetzt droht das historische Bündnis zu zerfallen. Denn den Kern der neuen Linksabspaltung bilden nicht etwa wirre politische Außenseiter oder Sektierer - sondern gestandene Gewerkschaftsfunktionäre wie etwa Thomas Händel, hauptamtlicher IG-Metall-Funktionär in Fürth. Händel ist nicht irgendwer, er hat schon Tarifverhandlungen geführt und ist 1971 in die SPD eingetreten. "Mein halbes Leben habe ich mich mit dieser Partei abgemüht", sagt Händel. "Für Willy Brandt wäre ich sogar in den Knast gegangen." Jetzt sitzt Händel im neu gewählten Sprecherkreis der "Wahlalternative".

Die SPD-Spitze reagiert zunehmend gereizt auf die Abspalter. Vor Wochen schon wurde Händel zusammen mit einer Hand voll anderer bayerischer IG-Metaller, die sich ebenfalls in der "Wahlalternative" engagieren, von der Parteischiedskommission aus der SPD ausgeschlossen. Beschwörend mahnt Parteichef Franz Müntefering, dass die "Arbeiterbewegung nur erfolgreich sein kann durch den Schulterschluss von SPD und Gewerkschaften".

Kein schlechtes Gewissen

Schlechtes Gewissen plagt die Neugründer jedoch nicht. Den Vorwurf, dass sie das linke Lager spalten und so am Ende vielleicht Angela Merkel an die Macht bringen, wollen sie nicht gelten lassen - im Gegenteil. "Wir sind doch nicht schuld daran, dass die SPD ihre Wahlen verliert, das schafft die SPD schon ganz allein", höhnt IG-Metaller Händel.

Müntefering muss, nach Jahren wachsender Entfremdung zwischen Gewerkschaften und SPD, nun eine politische Katastrophe befürchten: dass aus IG-Metall und Verdi, den beiden mächtigsten und schlagkräftigsten Arbeitnehmerorganisationen, zumindest die mittlere Funktionärsschicht ausschert und mit der "Wahlalternative" eine eigene politische Organisation aufbaut - um sich dann in Wahlkämpfen gegen die Schröder-SPD und ihre Agenda 2010 zu kehren.

Penibel beobachtet die SPD-Zentrale im Berliner Willy-Brandt-Haus daher alle Aktivitäten. Schon vor Monaten gab der damalige Generalsekretär Olaf Scholz Order, die Genossen vor Ort sollten wachsam sein und alle Abspaltungs- und Abwerbungsversuche an der Basis umgehend nach oben melden. Führende Sozialdemokraten argwöhnen, dass die Gewerkschaftsspitzen die Neugründungsversuche zumindest wohlwollend begleiten, wenn nicht gar fördern.

Nähe zum Gewerkschaftsapparat bringt Vorteile

Tatsächlich trafen sich Aktivisten der "Wahlalternative" unlängst zum Strategiegespräch in den Räumen des Berliner DGB-Landesverbandes. Und IG-Metall-Funktionär Händel koordiniert die Arbeit der "Wahlalternative" von einem kleinen Büro im Fürther Gewerkschaftshaus. Zwar versichert er, dass die Miete fürs Büro aus den Töpfen der "Wahlalternative" bezahlt werde - aber dass die räumliche Nähe zum Gewerkschaftsapparat Vorteile bei Agitation und Organisation bietet, bestreitet er nicht.

Abspaltungsversuche links von der SPD hat es immer wieder gegeben - zumeist endeten sie mit politisch verlorenen Haufen, sektiererisch zerstritten, von Eitelkeiten zerfressen. Diesmal aber kommt der Angriff aus dem Herzen der organisierten Arbeitnehmerbewegung. Und hinter den populären Forderungen nach Umverteilung und Sozialausbau können sich viele versammeln - auch und gerade, weil die Programmatik intellektuell eher bescheiden daherkommt.

Als habe es in den vergangenen Jahren all die Debatten um Globalisierung und Reformzwänge nicht gegeben, träumen sich die Initiatoren zurück in die guten alten, wachstumsgesättigten 70er Jahre. Die Praxisgebühr soll weg, und weg sollen Rentenkürzungen und Hartz-Reformen am Arbeitsmarkt. Stattdessen möge der Staat mit einem mindestens 40 Milliarden Euro schweren Konjunkturprogramm wieder für Beschäftigung sorgen. Dass die zunehmende Überalterung irgendwelche Probleme in den Sozialkassen verursacht, wird schlicht geleugnet.

Zurück ins sozialstaatliche Kuschelparadies

Arbeitszeitverkürzung, Einführung eines Mindestlohns, Erhöhung der Renten und "qualitativ hochwertige Gesundheitsleistungen in allen medizinisch erforderlichen Bereichen für alle Erwerbstätigen", sollen den Weg zurück weisen in ein sozialstaatliches Kuschelparadies, das man sich von "den Reichen" finanzieren lassen möchte. Die müssten über hohe Vermögens- und Erbschaftsteuern ordentlich löhnen.

Ob das "links" ist, oder ob hier nicht vielmehr die ehemals Privilegierten des alt-bundesrepublikanischen Wohlfahrtsmodells ihre gewohnten Besitzstände zurückfordern, auf Kosten der Jungen, der besonders Leistungswilligen und derjenigen, die an den hohen Eintrittsbarrieren des Arbeitsmarktes scheitern - darüber ließe sich trefflich streiten. Einen "Populismus von links" wittert der Göttinger Parteienforscher Franz Walter hinter der Neugründung.

Tatsächlich sammelt die "Wahlalternative" all jene ein, die an der Schröder-SPD über die Jahre verzweifelt sind: IG-Metall-Sekretäre und Attac-Aktivisten, Ex-DKPler und Vertreter des katholischen Arbeitnehmerflügels der CDU, Friedens- und Frauenbewegte. "Bei uns treffen sich jetzt Leute wieder, die schon vor zehn oder 15 Jahren in der Umwelt- oder der Friedensbewegung gemeinsam Aktionen gemacht haben", sagt Irina Neszeri, eine 30 Jahre alte Studentin aus Duisburg, die aus der PDS dazukam und jetzt für die "Wahlalternative" die Pressearbeit macht.

Schröders Politik passt vielen nicht

Die altgedienten Polit-Aktivisten geben dem Projekt Struktur und Durchhaltefähigkeit. Die meisten verfügen über jahrelange Organisationserfahrung, wissen, wie man Apparate aufbaut, Gremien zusammenhält, Kampagnen steuert. Deswegen kann die SPD nicht darauf hoffen, dass sich die Sache in Dilettantismus und Chaos irgendwie von selbst erledigt. Möglicherweise kommen tatsächlich viele dazu, denen irgendwas an Schröders Politik nicht passt. Dann wird es am Ende vielleicht ein bisschen so sein wie in der Friedensbewegung der frühen 80er. Da marschierten viele für den Weltfrieden, aber wo die Lautsprecheranlage herkam und wie man die Flugblätter druckte - das wussten immer die Genossen von der DKP.

In der Hauptstadt, wo smarte Leitartikler seit Jahren die "Berliner Republik" herbeischreiben und schneidige Jungpolitiker ein durchmodernisiertes und national entkrampftes Deutschland herbeisehnen, wirkt die kleine Schar der Linksabweichler, als hätte sie sich aus den 70er und 80er Jahren geradewegs in die neue Zeit verirrt. Das verleiht der ganzen Sache eine gewisse exotische Faszination: Berlin fühlt sich als Stadt, die niemals schläft - und dann kommen die Gewerkschaftssekretäre der "Wahlalternative" aus Krefeld oder Fürth und reden von der 35-Stunden-Woche. Man wusste gar nicht, dass es solche Leute überhaupt noch gibt.

Nicht nur von den Inhalten, auch vom Habitus her liegen zwischen ihnen und der neu-mittigen SPD des Modernisierungskanzlers Schröder Welten. Man sieht viele Holzfällerhemden und Sakkos, die zumindest nicht von Brioni stammen. Es ist gewissermaßen die "alte Mitte", die jahrelang geschwiegen hat - und jetzt an Schröders "neuer Mitte" Rache nimmt.

"Alte Mitte" soll angesprochen werden

Wie groß die "alte Mitte" ist, weiß niemand. Aber rund 10,5 Millionen Wähler, die bei der Bundestagswahl 2002 noch der SPD ihre Zweitstimme gegeben haben, blieben bei der Europawahl zu Hause. Genau diese Klientel, die sich trotzig in die Wahlenthaltung geflüchtet hat, wollen die Initiatoren der neuen Linkspartei ansprechen.

Dass sie dafür einen wortgewaltigen Demagogen vom Schlage eines Oskar Lafontaine bräuchten, lassen die Parteigründer nicht gelten. An Selbstvertrauen fehlt es ihnen auch in diesem Punkt nicht. "Oskar kann gern mitmachen", sagt Marc Mulia, der von den Grünen über Umwege zur "Wahlalternative" kam. Mulia hat für Lafontaine schon eine Aufgabe im Kopf: "Der könnte doch Kreisvorsitzender in Saarbrücken werden."

DPA
Tilman Gerwien