Urteile gegen Straßenblockierer Warum sich die Justiz mit den Aktionen der Letzten Generation so schwer tut

Junge Menschen in orangen Warnwesten sitzen zwischen Autos auf einer mehrspurigen Straße. Polizisten stehen hinter ihnen
Bei der juristischen Aufarbeitung der Straßenblockaden von Aktivisten der Letzten Generation sind sich die Richter noch uneins
© Paul Zinken / DPA
Spätestens nach dem tödlichen Radfahrerunfall in Berlin provozieren die Straßenblockaden von Aktivisten der Letzten Generation Wut und Empörung. Die juristische Bewertung ist nicht ganz so einfach. In Berlin hat ein erster Richter solche Aktionen nun für rechtskonform erklärt.

Wenn es nach dem Zorn der Volksseele ginge, wäre das Urteil gegen die Aktivisten der sogenannten Letzten Generation, die zum Ziel des Klimaschutzes Kreuzungen blockieren. "Alle wegsperren" lautet das vollmundige Credo der empörten Twitter-Gemeinde oder des "Bild"-Boulevards. Auch aus Teilen der Politik kommen wenig zielführende Vergleiche, wenn sich beispielsweise CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt bemüßigt fühlt, die Aktivisten der Letzten Generation als "Klima-RAF" zu brandmarken.

Wenig erstaunlich also, dass in einer aktuellen Umfrage des Onlinebefragungsunternehmens Civey für den "Spiegel" 86 Prozent der Befragten angaben, dass die Klimaaktivisten in ihren Augen mit ihren Protesten zu weit gingen. 78 Prozent sind zudem dafür, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an solchen Aktionen härter bestraft werden sollten.

Noch ist die Zahl der Gerichtsurteile überschaubar. Laut einem Bericht der "Süddeutschen Zeitung" gibt es gerade einmal sieben rechtskräftig verhängte Strafen. 266 Mal habe die Staatsanwaltschaft in Berlin einen sogenannten Strafbefehl beantragt, zumeist wegen Nötigung, gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte.

Solche Strafbefehle sind quasi Urteile ohne Prozess. Ein Richter prüft den Antrag der Staatsanwaltschaft, gibt ihm statt oder lehnt ihn ab. Wenn der Richter den Antrag durchwinkt, kann der Angeschuldigte binnen einer Frist Einspruch einlegen. Dann kommt der Fall tatsächlich vor Gericht. Falls der Angeschuldigte den Strafbefehl unwidersprochen hinnimmt, gilt er als rechtskräftig verurteilt.

Erste Urteile nach Straßenblockaden

Nach den jüngsten Meldungen, wonach einige Aktivisten und Aktivistinnen für ihre Blockaden verurteilt worden sind, hat es den Anschein, als ob sich die Justiz über die Rechtswidrigkeit der Klebeaktionen einig ist. Doch der Eindruck trügt. In Berlin hat gerade ein Fall Aufmerksamkeit erregt, in dem ein Richter den Strafbefehl der Staatsanwaltschaft gegen eine Aktivistin abgelehnt hat und sehr sorgfältig, auf sieben Seiten, begründet hat, warum er die Aktionen für legal hält. In zwei weiteren Fällen in Berlin haben Richter die Strafbefehle zwar nicht erlassen, jedoch jeweils eine Hauptverhandlung anberaumt, in denen über die Tatvorwürfe entschieden werden soll.

Für Carla Hinrichs, die Pressesprecherin der Letzten Generation, sind das gute Nachrichten. Sie hatte zuvor verlangt, die Gerichte müssten endlich anerkennen, "dass ziviler Widerstand gegen einen Regierungskurs, der immer tiefer in die Klimakrise führt, moralisch und juristisch gerechtfertigt ist".

Lassen wir die Moral mal außen vor, aber weil gerade so viele Menschen in Deutschland die Aktivistinnen und Aktivisten gerne härter bestraft sehen wollen, erscheint es angebracht, die juristischen Hintergründe einmal aufzuzeigen.

Zunächst einmal: Solcherlei Blockaden sind keineswegs neu. Schon beim Protest gegen Kernkraft und Nachrüstung in den 70er und 80er Jahren gehörten Sitzblockaden zum Arsenal der Protestierenden in Gorleben, Mutlangen, Wackersdorf. Was dazu geführt hat, dass diese Form des gewaltlosen Protests inzwischen von zahlreichen Gerichten bis hoch zum Bundesverfassungsgericht beleuchtet und als verfassungskonform eingestuft worden ist. Mit der Einschränkung: sofern keine Straftat vorliegt.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Sind Straßenblockaden tatsächlich Nötigung?

Als Straftaten kommt in diesem Zusammenhang insbesondere Nötigung in Betracht, genauso wie Sachbeschädigung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr. Wobei "Nötigung" in diesem Zusammenhang den wohl problematischsten Sachverhalt darstellt. Denn die juristische Bewertung, ob eine Aktion des zivielen Ungehorsams wie etwa eine Straßenblockade eine Nötigung darstellt oder nicht, orientiert sich an zwei Kriterien: Handelt es sich um "Gewalt?" Und ist sie "verwerflich"?

Bereits an der ersten Frage entzündete sich eine erbitterte juristische Debatte, die beinahe 25 Jahre währte. 1995 rang sich zwar das Verfassungsgericht letztlich in einem Urteil zu einer Entkriminalisierung solcher Proteste durch. Doch der Bundesgerichtshof mochte das nicht hinnehmen und kam auf eine äußerst kreative, für Nicht-Juristen auch nur schwer verständliche Auslegung des Gewaltbegriffs, die bis heute Bestand hat. Mögen solcherlei Aktionen des zivilen Ungehorsams für Außenstehende auch einen noch so friedlichen Charakter haben: Für Juristen sind sie tatsächlich "Gewalt".

Doch sind sie auch "verwerflich?" Im Gegensatz zu anderen Paragrafen im Strafgesetzbuch muss beim Nötigungsparagrafen die Rechtswidrigkeit ausdrücklich festgestellt werden. Und als rechtswidrig gemäß Paragraf 240, Absatz 2 Strafgesetzbuch, gilt nur, wenn die Anwendung der Gewalt zu dem angestrebten Zweck als verwerflich eingestuft wird. Betrachtet wird also die Zweck-Mittel-Relation.

Zentrale Frage: Sind Blockaden im juristischen Sinne verwerflich?

Was aber heißt "verwerflich" in diesem Zusammenhang überhaupt? Im Falle von Versammlungen hat da wiederum das Verfassungsgericht konkrete Kriterien aufgestellt. Begutachtet werden muss unter anderem die Art und das Maß der Auswirkungen auf betroffene Dritte und ihre Grundrechte. Genauso wie die Dauer und die Intensität der Aktionen. Und ob es eine vorherige Bekanntgabe darüber gab.

Gemäß dieses Kriterien urteilen die Berliner Richter nun also darüber, ob die Aktionen der Letzten Generation also als Nötigung einzustufen sind oder nicht. Und sind durchaus unterschiedlicher Meinung. Denn anders als viele Kollegen kommt zumindest ein Berliner Richter in seinem Beschluss vom 5. Oktober zu der Auffassung, dass die Klimaaktivistin, die in Berlin-Friedrichshain dreieinhalb Stunden eine Kreuzung blockiert hatte, mit ihrem Tun zwar den Tatbestand der Nötigung erfüllt hat, dies aber nicht rechtswidrig gewesen sei, weil es an der Verwerflichkeit fehlte.

Zur Begründung führte der Richter an, es bestehe eine "objektiv dringliche Lage bei gleichzeitig nur mäßigem politischem Fortschreiten unter Berücksichtigung namentlich der kommenden Generationen, wie dies auch durch das Bundesverfassungsgericht erst kürzlich angemahnt werden musste". Autofahrer seien zudem keine gänzlich Unbeteiligten, sondern "maßgeblich an dem Verbrauch von Öl beteiligt und damit Teil der Klimaproblematik".

Zumindest dieser Richter hat das getan, was sich Letzte-Generation-Pressesprecherin Carla Hinrichs von den Verfahren gegen Aktivisten und Aktivistinnen erhofft: "Auch das Gericht muss jetzt im Hinblick des Klimanotstands so wie wir alle Grenzen übertreten. Es braucht einen juristischen Anstoß, der dann eine Welle von Freisprüchen auslöst."