Herr Heinemann, wie desaströs ist das Urteil aus Karlsruhe?
Aus Sicht eines Ökonomen ist das überhaupt nicht desaströs. Für die Bundesregierung ist es natürlich extrem unangenehm, weil das Urteil sehr eindeutig und klar ist, ohne Spielraum für die Ampel-Koalition. Es war das für sie härteste mögliche Ergebnis. Aber das Urteil kommt genau zum richtigen Zeitpunkt, denn momentan laufen die Haushaltsverhandlungen und da soll ja schon wieder Geld mit vollen Händen rausgeworfen werden. Beispiel Mehrwertsteuer: Momentan ist die Koalition kurz davor, die Steuersubvention für die Gastronomie zu verlängern. Während der Pandemie hatte sie den Steuersatz von 19 auf sieben Prozent gesenkt. Das sind 3,5 Milliarden Euro jedes Jahr, obwohl es für diese Subvention kein Argument mehr gibt. Da kommt das Urteil eigentlich genau recht, weil es der Regierung sagt: So geht's nicht. Ihr habt eine Schuldenbremse, und an der könnt ihr euch nicht einfach kreativ drumherum mogeln.
Friedrich Heinemann leitet am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim den Bereich Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft. Er ist außerplanmäßiger Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Heidelberg.
Aber die Gefahr ist doch jetzt, dass sich die Ampel-Regierung wieder blockiert und sich die Haushaltsverhandlungen enorm in die Länge ziehen.
Ja, sie muss jetzt neu priorisieren. Das ist politisch natürlich peinlich für die Ampel. Sie muss nun halt jeden Euro zwei- oder dreimal umdrehen. Aber es kann uns ja nicht darum gehen, dass die Regierung einen möglichst angenehmen Job hat, sondern es muss darum gehen, dass sie mit Geld sehr vorsichtig umgeht, und das war nicht immer der Fall. Die Lage ist für die Regierung jetzt extrem schwierig, denn 60 Milliarden kann man auch nicht in einer Haushaltsanpassung einsammeln. Aber man kann damit anfangen.
Wie schnell muss die Regierung jetzt bei den Ausgaben aus dem Klima- und Transformationsfonds (KTF) umplanen?
Das Gute ist, dass die 60 Milliarden nicht komplett im nächsten Jahr ausgegeben worden wären, sondern das als mehrjähriger Abfluss aus dem Klima- und Transformationsfonds geplant war. Insofern kann die Regierung die Anpassungen über mehrere Jahre verteilen. Es ist auch nicht so, dass der laufende Kernhaushalt oder der Haushalt für 2024 formal blockiert wären, beide sind davon unberührt. Was die Regierung prüfen dürfte, ist, ob sie eine neue Krise ausrufen kann, um dafür ein Sondervermögen aufzunehmen, so wie damals bei der Coronapandemie. Aber das wäre wieder eine Operation, die kaum grundgesetzkonform wäre, weil wir einfach keine schwere akute Krisensituation haben.
Wirtschaftsminister Robert Habeck sagt, alle bereits geplanten Ausgaben würden getätigt, also zum Beispiel auch die Milliardensubventionen für das Chipwerk von Intel in Magdeburg. Wie soll das gehen, wenn von den 100 Milliarden Euro im KFT plötzlich nur noch 40 Milliarden übrig sind?
Sagen wir mal so: Eine Summe von 10 Mrd. Euro, wie sie Intel kriegen soll, lässt sich sicher irgendwo loseisen. Das sollte gehen, auch im Rahmen der Verfassung. Bereits getroffene Finanzzusagen kann Deutschland tatsächlich nicht zurücknehmen, weil dann das Image und die Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik auf dem Spiel stünden. Letzten Endes muss man, wenn man eine Budgetrestriktion hat, fragen: Was gibt es für Möglichkeiten, Einsparungen zu machen – oder eben dann auf der anderen Seite Steuererhöhungen zu diskutieren. Das hat Finanzminister Lindner schon ausgeschlossen und ohnehin ist die Steuerbelastung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hierzulande schon vergleichsweise hoch.
Was kann die Regierung machen, welche Posten muss sie streichen?
Wir haben die Debatte ums Bürgergeld, die mit Recht an Fahrt aufnimmt, der fehlende Lohnabstand wird immer mehr zum Problem und Arbeitsanreize gehen verloren. Die Kindergrundsicherung ist auch angesichts der damit verbundenen neuen Bürokratie stark umstritten. Aber der größte Brocken im Bundeshaushalt ist der Zuschuss an die Rentenversicherung. Der Sachverständigenrat hat gerade Vorschläge vorgelegt, die sofort wieder weggewischt wurden. Da sagt der Kanzler: Mit 67 ist auch mal Schluss mit Arbeiten. Na klar, wenn man die Realitäten derartig verdrängt, dann hat man keine Lösung. Aber die Schuldenbremse ist ja gerade da, um der Politik auch zu sagen: Leute, ihr habt eine Budgetrestriktion und ihr müsst euch den Realitäten stellen. Es gibt viele Tabus, und das wäre jetzt der Anlass.
Was ist mit der Abschaffung von Steuersubventionen wie dem Ehegattensplitting – das könnte dem Staat doch ordentliche Mehreinnahmen bringen?
Wir haben sehr viele sehr problematische Ausnahmeregelungen bei der Steuer. Da kann man erheblich was einsammeln. Da sind viele schlecht motivierte Anwendungen der ermäßigten Mehrwertsteuer ebenso wie immer noch fließende Subventionen an die Landwirtschaft. In der Einkommensteuer könnte man die Entfernungspauschale auf den Prüfstand setzen. Das Thema Ehegattensplitting ist im Hinblick auf die Lebensplanung für Familien allenfalls sehr langsam veränderbar. Steuerpolitisch wichtig wäre aber, Anreize für eine größere Arbeitsbereitschaft zu setzen. Das würde dem Fiskus angesichts des Arbeitskräftemangels an allen Enden viel bringen.

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Wäre also die beste Lösung, die Schuldenbremse aufzuweichen oder gleich ganz zu kippen?
Die Schuldenbremse abzuschaffen wäre eine fatale Lösung. Dann würden wir den nachfolgenden Generationen auch fiskalisch noch einen Scherbenhaufen hinterlassen. Es geht darum, sie zu reformieren. Vieles drängt in Richtung der Frage: Brauchen wir doch ein größeres Verschuldungsfenster und eine Ausweitung der Schuldenbremse? Dafür braucht man aber eine Verfassungsänderung, so wie zuletzt geschehen beim Sondervermögen für die Bundeswehr. Unter dem Schock des russischen Überfalls auf die Ukraine war die Grundgesetzänderung möglich, aber das Karlsruher Urteil ist eine andere Art von Schock.
CDU und CSU dürften sich gegen eine Ausweitung der Schuldenbremse wehren.
Naja, die Union macht in den Bundesländern genau das Gleiche wie die Ampel. In Nordrhein-Westfalen und in Berlin haben die unionsgeführten Landesregierungen Sondervermögen aufgelegt, die nach dem heutigen Urteil genauso ein Verfassungsbruch sind wie die Schuldenoperation beim Klima- und Transformationsfonds. Die sitzen alle in einem Boot. Deshalb hat die Union auch überhaupt keinen Grund zur Häme. Sie sollte vielmehr zu Verhandlungen bereit sein.
Wie könnte die Schuldenbremse denn sinnvoll reformiert werden?
Indem man festlegt, wofür wir unter Umständen mehr Schulden aufnehmen wollen. Das kann für klar investive Ausgaben gelten, die das deutsche Wachstumspotenzial mit großer Sicherheit steigern – und sich damit auch die Schuldentragfähigkeit verbessert. Zum Beispiel, wenn wir eine Modernisierung der digitalen Netze machen. Dafür kann man innerhalb der Schuldenbremse doch Schuldenfenster öffnen. Das wäre eine Lösung, weil man sagt: Wir finanzieren die Aufgaben, die auch wirklich nachfolgenden Generationen etwas bringen. Das können zukunftsorientierte Ausgaben im Bereich Digitalisierung sein, aber auch Ausgaben für die Anpassung an den Klimawandel. Dafür würden wir erlauben, neue Schulden im Rahmen einer neuen, modifizierten Schuldenbremse aufzunehmen. Das ist übrigens genau die Debatte, die wir in Europa gerade zur Reform der europäischen Fiskalregeln führen.
Wie weit sollte der Spielraum einer Neuverschuldung reichen?
Das müsste je nach Situation und Lage entschieden werden. Vor allem müssten die Regierungen dafür Sorge tragen, dass dieser Spielraum nicht indirekt missbraucht wird, um damit eine nächste Rentenerhöhung zu bezahlen. Wenn man das Verschuldungsfenster öffnet, um Investitionen zu finanzieren, ist die Gefahr immer, dass der Haushalt die durch die Verschuldung frei werdenden Steuermittel an anderer Stelle wieder ausgibt. Daher muss man da gut nachdenken. Aber ich denke, das ist machbar. Lieber die Schuldenbremse reformieren, als sie andauernd zu verletzen.
Aber eine Reform der Schuldenbremse dürfte nicht ganz so schnell kommen. Die Unternehmen in Deutschland hingegen brauchen jetzt Planungssicherheit. Glauben Sie also, dass die Wirtschaft die ökologische Transformation erst mal abbläst?
Die Regierung sollte jetzt doch mal ernsthafter prüfen, was Ökonomen seit Jahren sagen, zuletzt im Gutachten des Sachverständigenrats: nämlich dass eine ehrgeizige Klimapolitik gar nicht fiskalisch kostspielig sein muss. Sie erfordert den Mut, stärker über die Steuerung des CO2-Preises zu gehen – ihn schneller und mutiger auf andere Sektoren auszuweiten und die sozialen Härten dann mit einem Klimageld abzufedern. Die Tatsache, dass die Klimapolitik derzeit fiskalisch so kostspielig ist, fußt auf diesem ganzen verqueren Ansatz, dass man meint, man könne den Bürgern die Klimakosten nicht sichtbar zumuten und der Fiskus müsse deshalb alles zahlen. Es lassen sich Wege finden, die gar nicht mit so hohen öffentlichen Ausgaben verbunden sind.
Dieses Interview erschien zuerst an dieser Stelle beim Wirtschaftsmagazin "Capital", das wie der stern Teil von RTL Deutschland ist.