Ja, Social Media ist ein Phänomen, mit dem nicht leicht umzugehen ist. Vor 20 Jahren spielte es in unseren Leben noch keine Rolle, "es ging doch auch ohne!", und für viele Menschen sind Facebook, Twitter, Instagram und Co. immer noch lediglich eine Spielerei. Youtube ist für viele immer noch gleichbedeutend mit Schminkvideos für ein pubertierendes Publikum. Die Wucht und Wichtigkeit, die soziale Medien aber längst für ganze Generationen haben, wird von den vorhergehenden Generationen noch immer dramatisch unterschätzt. Und das sind jene Generationen, die in der Politik derzeit noch immer vorrangig vertreten sind. Das kann den großen Parteien nun womöglich zum Verhängnis werden.
Stolpern die Parteien über die sozialen Netzwerke?
Die Union betont ja bekanntlich gern ihre Liebe zu konservativen Werten. Und, ja, da passt Social Media wohl nicht recht dazu. Das ändert allerdings nichts daran, dass eine große, junge Wählergruppe inzwischen eher auf Youtube unterwegs ist als bei der "FAZ" – was für CDU und CSU gerade zu einem Problem ungekannten Ausmaßes wird. Ihre Versuche, die Menschen da abzuholen, wo sie offenbar viel Zeit verbringen, haben bisher nicht besonders gut funktioniert und fanden mehr als halbherzig statt. In den vergangenen zwei Wochen aber wurden die sozialen Medien für die Union zu einem Feld aus glühenden Kohlen.
Angefangen mit dem Video eines 26-jährigen Youtubers namens Rezo, der in 55 Minuten erstaunlich konkret die Probleme der jungen Wähler mit der Politik der Union auf den Punkt brachte – und der völlig ratlosen Reaktion der Partei darauf. Rezos Video "Die Zerstörung der CDU" wurde bisher 12,7 Millionen Mal angesehen und machte den Hashtag #niemehrcdu zum geflügelten Wort.
Und dann das Fanal: Die Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer überlegt eine Woche später, nachdem die Ergebnisse der Europawahl unerfreulich ausgefallen sind, laut, ob man einflussreichen Menschen wie Rezo vor Wahlen nicht den Mund verbieten solle. Was natürlich in jeder Hinsicht dem Grundgesetz inklusive Meinungs- und Pressefreiheit widerspricht. Es dauerte nicht lange, bevor daraufhin auf Twitter der Aufruf #akkruecktritt trendete.
Schlimmer noch: Nach der ersten Welle der Empörung behauptete Kramp-Karrenbauer, völlig falsch interpretiert worden zu sein. In bissigem Ton ging sie auf Twitter zum Gegenangriff über:
Doch die sozialen Medien haben den Vor- und Nachteil (je nach Standpunkt), solche Statements in typischem Politikersprech mit Fakten und Beweisen widerlegen zu können. Die Aussage der Parteichefin gibt es natürlich als Video, und das haben längst alle gesehen.
Nicht nur Kramp-Karrenbauer irritiert
Doch auch wenn die AKK-Krise sicher der aktuell größte Aufreger ist, patzte die Union ebenso davor, danach und drumherum souverän. So wie der parlamentarische Staatssekretär Thomas Bareiß, der in einem Tweet junge Wähler herabwürdigte und Vernunft mit wirtschaftlichen Interessen gleichsetzte. Die Reaktionen auf diese Äußerung fielen empört, lautstark und zahlreich aus.
Und dann ist da das Mysterium um das versprochene Youtube-Video von Philipp Amthor. Nachdem nämlich die CDU-Kritik von Youtuber Rezo gerade relativ frisch online war, hatte die CDU angekündigt, mit einer Video-Replik des jungen Politikers Philipp Amthor darauf zu reagieren. Das ganze Netz wartete gespannt. Wie eine Antwort des Politikers aussehen sollte, die junge Menschen auf ähnliche Weise bewegt wie Rezos leidenschaftliche Faktenschlacht, konnte sich keiner so recht vorstellen.
Auch die Parteiführung letztlich nicht: Das versprochene Video wurde zwar angeblich gefilmt, dann aber zurückgehalten und nie veröffentlicht. Unsouveräner geht es eigentlich nicht. Jungen Menschen bewusst machen, dass man als Partei Versprechen ohne Wimpernzucken bricht – so macht man das.
Gebrochene Versprechen, enttäuschte User
Apropos: Erinnern Sie sich noch daran, wie Innenminister Horst Seehofer (CSU) im Sommer 2018 ankündigte, jetzt groß bei Twitter durchstarten zu wollen? „Ich sehe mich jetzt dazu gezwungen, weil ich manche Wahrheiten sonst nicht unter eine breite Bevölkerung bekomme", hatte der 69-Jährige geklagt. Einen Monat später gab es ihn tatsächlich, den Seehofer-Twitteraccount. Mit Spannung warteten die Menschen darauf, was dort denn nun für Wahrheiten gepostet würden. Sie warteten vergeblich.
Bis heute hat Horst Seehofer exakt zwei Tweets abgesetzt: Einen, um Annegret Kramp-Karrenbauer zur Wahl zur CDU-Chefin zu gratulieren. Einen, um das Niederlegen seines Amtes als CSU-Vorsitzender zu verkünden. Danach scheint er sein Twitter-Passwort vergessen zu haben, oder aber all die unbequemen Wahrheiten, die er uns doch präsentieren wollte. Auch folgt der CSU-Politiker niemandem mit seinem Account – nicht einmal der CSU oder dem Innenministerium. Große Ankündigungen – wenig geliefert.
Was läuft schief bei den Politikern?
Die Parteien lernen gerade auf die harte Tour, was auch viele Unternehmen erst lernen mussten: 1.) Die sozialen Netzwerke sind relevant. Auch wenn sie in deiner Welt bisher kaum stattgefunden haben. 2.) Das "sozial" in "soziales Netzwerk" bedeutet, dass du nicht weit kommst, wenn du einfach nur deine Nachrichten in glattem PR-Ton in die Welt posaunst. Das Publikum erwartet die Möglichkeit, zu interagieren, zu diskutieren und zu kritisieren. Darauf musst du vorbereitet sein. 3.) Langweilige Inhalte bedeuten, schlicht nicht sichtbar zu sein. Nur Postings, die Nutzer persönlich berühren, ansprechen oder auch ärgern, werden kommentiert, geteilt und so weiterverbreitet. 4.) Was einmal im Netz ist, bleibt im Netz. Du machst etwas Dummes? Dann rede dich nicht raus, sondern steh dazu.
Bei der Union kommt zur Unkenntnis des Social Web aber noch etwas anderes: eine irritierende Arroganz gegenüber jungen Menschen. Klar, gerade junge Menschen können naturgemäß oft mit den konservativen Ideen der Christdemokraten wenig anfangen. Aber statt mit Argumenten, Verständnis oder schlicht Höflichkeit (konservative Tugend, oder?) um die jungen Wähler zu werben, werden sie von Seiten der CDU aktuell bepöbelt, kleingemacht und offensichtlich für dumm gehalten. Besonders irritierend ist, wie selbst Politiker in hohen Ämtern die Themen, die die Jugend gerade bewegen, so völlig verschlafen konnten:
Immerhin findet gerade ein Umdenken statt
Diese geballte Ahnungslosigkeit hat der CDU nun die vielleicht größte und sicher die unerwartetste Krise des Jahres beschert. Selbst die Position der Parteichefin scheint plötzlich bedroht – wegen eines Youtube-Videos. Die Konkurrenten von der SPD waren einen Schritt voraus und engagierten vor kurzem eine ganze Riege Social-Media-Profis. Zu spät, um im Europawahlkampf viel herumzureißen, aber immerhin. Die Union wäre gut beraten, hier ebenfalls in ein wenig Expertise zu investieren. Dass sich das lohnen könnte, dürfte ihnen so ganz, ganz langsam bewusst geworden sein.
