Kurz vor dem Weltflüchtlingstag am 20. Juni hat das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) berichtet, dass erstmals mehr als 100 Millionen Menschen auf der Flucht sind – so viele wie nie mindestens seit dem Zweiten Weltkrieg. Eine große Krise ist der Krieg in der Ukraine, der Millionen Menschen in die Flucht getrieben hat. Die Journalistin Sandy Bossier-Steuerwald widmet sich mit ihrem Projekt "Frauen auf der Flucht" den Ukrainerinnen, die nach oder durch Deutschland kommen. Die oft langen Gespräche voller bewegender Geschichten veröffentlicht sie dann auf ihrem Blog sowie in den sozialen Medien wie Instagram.
Frau Bossier-Steuerwald, wie kamen Sie auf das Projekt "Frauen auf der Flucht"?
Das war eine völlig spontane Idee. Vor dem Krieg hatte ich mich kaum mit der Ukraine beschäftigt, ich spreche kein Wort ukrainisch. Nach dem Kriegsausbruch gab es plötzlich in meinem Freundeskreis diese große Solidarität. Ich habe überlegt, was ich noch tun kann, außer Klamotten und Geld zu spenden.
Über Freunde lernte ich die erste Ukrainerin kennen und verspürte schnell den Drang, mich mit ihr sowie anderen Frauen zu unterhalten. Da habe ich gemerkt: Das sind moderne, mutige Frauen, die noch kürzlich voll im Leben standen – als liebende Mütter, erfolgreiche Managerinnen oder Forscherinnen. Für sie selbst ist dabei das Attribut "geflüchtete Frau" neu, gar nicht Teil ihres Selbstbilds. Abgesehen davon war ich müde geworden, den schrecklichen Nachrichten aus der Ukraine zu folgen, wo der Krieg immer abstrakter wurde. Diese persönlichen Geschichten machen den Krieg viel nahbarer. So kam es dazu, dass ich als Journalistin nun regelmäßig über Frauen schreibe, die Interesse haben, ihre Geschichte zu erzählen.
Die große Vertreibung: 100 Millionen Menschen sind auf der Flucht vor Gewalt

Nach Angaben des UNHCR sind zurzeit 750.000 Somalier ins Ausland geflüchtet, 2,6 Millionen Menschen sind wegen der politischen Instabilität und anhaltenden Dürreperioden im eigenen Land auf der Flucht. Vor allem diese Binnenflüchtlinge leben unter oft katastrophalen Bedingungen in zu Dauerprovisorien verkommenen Lagern.
Auf dem Foto: Vor Dürren und Kämpfen geflohene Somalier in einem Camp in den Vororten der Hauptstadt Mogadischu.
Wie kommen Sie an die Frauen heran und bauen Vertrauen auf?
Zu Beginn kamen die Frauen aus meinem unmittelbaren Umfeld, manchmal wurde ich "weiterempfohlen", etwa in einem Flüchtlingscafé. Ich habe gemerkt, dass ein Aufruf in großem Stil wenig bringt. Man braucht schon eine persönliche Verbindung, denn es geht ja viel um Vertrauen. Obwohl die Frauen mehr oder weniger traumatisiert sind, öffnen sie sich sehr. Meist fließen in den Gesprächen Tränen der Trauer, des Schmerzes, aber manchmal auch Freudentränen. Ich habe keine vorbereiteten Fragen, sondern lasse die Frauen das ansprechen, was ihnen auf dem Herzen liegt – für mich ist Frauenaufderflucht.de auch ein Herzensprojekt.
Welche der Geschichten hat Sie bislang am meisten berührt?
Wirklich jede dieser außergewöhnlichen Geschichten dieser gewöhnlichen Frauen hat mich berührt. Manchmal denke ich im Gespräch, dass die Erlebnisse kaum mehr getoppt werden können. Und dann klingt die Geschichte der nächsten Interviewpartnerin plötzlich auch wie ein Hollywood-Drama oder wahres Märchen. Es ist verrückt.
Eine besondere Geschichte ist für mich die von Inessa, die ihre Tochter mit zerebraler Lähmung im Rollstuhl bei der Oma in der Ukraine zurücklassen musste. Die Siebenjährige braucht eigentlich spezielle Nahrung und vor allem warmes Essen. Doch die Umstände sind mittlerweile schwierig geworden, und nun hofft Inessa seit Monaten, dass es doch einen Weg gibt, die Tochter aus der Ukraine zu holen.

Bewegt hat mich auch das Schicksal von Katya, einer Studentin aus Charkiw. Vier Tage hat sie nach Beginn des russischen Angriffs in einer U-Bahnstation ausgeharrt, dann ist sie geflohen. Ihre Freunde sind geblieben, weil sie zu viel Angst vor der Flucht hatten. Katya sagte mir Anfang Mai: "Ich weiß nicht, ob sie es noch heraus schaffen werden oder ob sie morgen sterben."
Haben Sie einen Traum in Bezug auf das Projekt?
Es wäre toll, wenn ich Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen lenken könnte, etwa auf das Schicksal von Kriegswaisen. Oder wenn ich vermitteln könnte – sei es Geld, einen Transport für die in der Ukraine festsitzende Tochter oder sonstige Hilfe. Ich würde gern etwas bewirken.