Herr Clement, Sie sind vorige Woche 64 Jahre alt geworden - wie lange wollen Sie noch arbeiten?
Bis ich das Ziel erreicht habe zu helfen, dass der Arbeitsmarkt wieder in Ordnung kommt...
Also noch lange.
...oder zumindest auf einen unumkehrbaren Weg der Besserung.
Sind Sie reif für die Insel?
Nein, ich bin völlig relaxed. Mit Hartz IV, der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, schaffen wir jetzt den Ausbruch aus der Stagnation.
Sie haben sich Urlaub verdient?
Wir fahren mit unserer ganzen Familie für zwei Wochen in die Toskana, da haben wir ein sehr schönes altes Landhaus in der Nähe von Siena gemietet - mit Swimmingpool für die Kleinen. Wir sind 17 Leute, meine Töchter kommen mit Anhang. Da ist eine riesige Küche und alles, was man braucht. Meine Schwiegersöhne kochen wie die Weltmeister.

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Und Sie?
Ich bin zu Hause nur für die groben Arbeiten zuständig: Staub saugen, Betten machen, Rasen mähen, Unkraut jäten. Für Feinheiten bin ich nicht gefragt.
Wie oft haben Sie in den letzten Monaten an Rücktritt gedacht?
Ich will ja ehrlich sein, deshalb möchte ich Ihre Frage nicht beantworten.
Haben Sie sich den Job des Wirtschaftsministers so schwierig vorgestellt, als Sie 2002 dem Lockruf des Kanzlers erlagen?
Nicht so krass wie in manchen Situationen. Aber ich erhole mich schnell von Rückschlägen. Das ist mein Naturell, ich bleibe nicht mehr als eine Nacht im Tal.
Bei internen Sitzungen mussten Sie sich von Ihren Parteifreunden zuletzt oft anhören: Wolfgang, wir sind in allen Punkten anderer Meinung als du. Das beeindruckt Sie nicht?
Wir befinden uns in einer Zeitenwende, niemand konnte erwarten, dass es leicht wird. Gegensätze müssen ausgetragen werden, in aller Klarheit. Da gibt es am Wegesrand viel Unerfreuliches, aber das beachte ich gar nicht. Ich erlebe ja auch anderes, wenn ich unterwegs bin, natürlich auch von SPD-Mitgliedern und Sympathisanten. Wir werden jedoch nicht an Absichten gemessen, sondern an Erfolgen. Die gibt es noch nicht ausreichend, aber ich bin überzeugt, dass wir sie erreichen können.
Sie glauben trotz aller Widerstände, dass Deutschland reformierbar ist?
Es wird immer mehr verstanden, dass sich bei uns in Deutschland viel ändern muss. Entweder wir raffen uns auf und nehmen den Wettbewerb mit den anderen Weltregionen an, oder wir werden ein Fall für eine mehr oder weniger freundliche Übernahme. Meine Generation wird noch wunderbar so leben können wie bisher, für die nächste wird es nicht mehr reichen. Deshalb kann ich die Jungen nur ermutigen: Lasst euch das nicht gefallen!
Gilt noch der Satz: Erst das Land, dann die Partei?
Unzweifelhaft.
Auch dann, wenn die Partei kaputtgeht?
Die SPD geht nicht kaputt, aber sie geht durch eine verteufelt schwere Zeit. Ich hoffe, dass sich die ersten Erfolge unserer Arbeit bald einstellen. Bis dahin müssen wir durchs Tal sein. Das ist schrecklich schwer. Insbesondere für den Kanzler ist das eine unglaubliche Teufelsfahrt. Aber es führt kein Weg daran vorbei. Meine Kollegen in der EU haben mich im Übrigen zu Hartz IV nur beglückwünscht und gesagt: Respekt!
Und was machen Sie, wenn Ihnen die Wähler 2006 den Respekt verweigern?
Das müsste man notfalls in Kauf nehmen. Wir machen das ja nicht aus Daffke. Jede Regierung müsste im Kern so handeln, wie wir es tun: Es geht nicht anders. Diejenigen, die das bezweifeln, üben zwar teilweise ätzende Kritik, haben aber keine überzeugenden Angebote für andere Wege.
Was wird zuerst besser: die Arbeitslosenzahlen oder die Umfragewerte der SPD?
Am Arbeitsmarkt wird einiges besser werden. Parallel dazu werden sich die Umfrageergebnisse verbessern, hoffe ich. Dann wird auch die SPD wieder ihren eigenen Wert schätzen lernen.
Weil die Genossen dann endlich kapieren...
Es geht nicht ums Kapieren. Damit die SPD ihr berechtigtes Selbstwertgefühl wiederfindet, müssen wir Erfolge bewirken. Das wird uns auch gelingen.
Im September wird in den Kommunen in Nordrhein-Westfalen gewählt. Bekommen Sie Einladungen für den SPD-Wahlkampf?
Zurzeit nicht. Das ist unverständlich. Aber ich habe eine Fülle eigener Veranstaltungen und Termine in Nordrhein-Westfalen. Ich bin ausgebucht.
Ist Rot-Grün in Berlin nicht am Ende, wenn nächstes Jahr im Mai die Landtagswahl in Ihrem alten Bundesland verloren geht?
Nein, aber die Landtagswahl darf natürlich nicht verloren werden.
Im Moment sieht's danach aus.
Ach, Herr Rüttgers...
...der CDU-Spitzenkandidat...
...hat sich im Jahr 2000 auch schon in der Staatskanzlei gesehen. Das Bild habe ich noch vor Augen.
Sie sind in der Gefahr, die Ulla Schmidt des Januar 2005 zu werden...
Das kann nicht sein, weil ich keine Geschlechtsumwandlung plane.
...und Hartz IV Ihre Praxisgebühr.
Das könnte Ihnen so passen!
Pannen schließen Sie aus?
Wir treten mit offenem Visier an. Ab Januar wird vieles neu und anders. Die Zeit der unerklärten Arbeitslosigkeit ist vorbei, wir holen alle Erwerbsfähigen auf den Markt und ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Dass das nicht alles völlig reibungslos funktioniert, ist mir klar. Wir werden da schon noch einige bunte Tage erleben. Aber es gibt keine Alternative.
Schon jetzt haben Sie das Image: Wolfgang Clement - der Sozialabbauer, der Arbeitslosenjäger.
Das nehme ich völlig anders wahr. Ich glaube, nicht wenige Menschen wissen oder spüren, dass ich es ernst meine mit dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit.
Gegen Ihre Politik der "sozialen Kälte" gehen Hunderttausende auf die Straße, eine neue Linkspartei wird gegründet.
Wir verändern die Bedingungen am Arbeitsmarkt doch nicht, um irgendjemanden zu bestrafen oder schlechter zu stellen, sondern weil der bisherige Weg im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit trotz riesigen Finanz- und Bürokratieaufwands nicht erfolgreich war. Deshalb setzen wir alles auf die Karte Vermittlung.
Vielleicht gäbe es weniger Protest, wenn die Menschen das Gefühl hätten, auch die Privilegierten müssen bluten.
Noch einmal: Ich stürze niemanden in einen Abgrund. Sondern wir sorgen erstens dafür, dass ab Januar jeder junge Mann und jede junge Frau unter 25 Jahren, die arbeitslos sind, ein Angebot auf Ausbildung, Arbeit oder Qualifizierung bekommen - eines, das sie dann allerdings auch annehmen müssen. Ist das unmenschlich? Zweitens stürzen wir nicht die eine Million Sozialhilfeempfänger und ihre Familien ins Elend, sondern wir holen sie hervor. Diese Menschen kommen erstmals in eine konzentrierte Arbeitsvermittlung und erhalten eine Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung, was sie bis-lang nicht hatten. Keiner ist schlechter gestellt, alle werden besser gestellt.
Bis auf die Bezieher von Arbeitslosenhilfe, die zu 75 Prozent weniger bekommen.
Die ich drittens nicht in eine katastrophale Lage bringe. Wir schaffen Anreize für sie, Zuverdienstmöglichkeiten und - wenn es im Ersten Arbeitsmarkt nicht geht - auch Arbeitsgelegenheiten. Allerdings auch Sanktionen, wenn jemand eine zumutbare Arbeit ablehnt. Damit machen wir nichts anderes als die Nationen, die bislang erfolgreicher am Arbeitsmarkt waren als wir. Und wir machen es unter sozialen Bedingungen, die immer noch Weltklasse sind. Deshalb widerspreche ich dem Vorwurf entschieden, wir machten eine Politik der sozialen Kälte.
Der stern hat Gewinner und Verlierer von Hartz IV vorgestellt, darunter das kinderlose Ehepaar Klaus-Dieter und Brigitte Walitzki aus Mecklenburg-Vorpommern, beide Ende 40, beide seit 14 Jahren mit kurzen Unterbrechungen arbeitslos. Sie bekommen ab Januar statt 1013 Euro Arbeitslosenhilfe nur noch 722 Euro Arbeitslosengeld II. Brigitte Walitzki sagte, sie würde "gern einmal die Politiker fragen, wo ich denn nach Arbeit suchen soll". Was antworten Sie?
Ich kann den Fall natürlich nicht im Detail beurteilen, aber Frau Walitzki wird einen Vermittler oder eine Vermittlerin haben, der oder die ihr anbietet, was in Mecklenburg-Vorpommern möglich ist, einschließlich Minijobs. Unter Umständen muss sie allerdings auch den Wohnort wechseln.
Das möchte sie nicht so gern.
Tut mir leid, auch das gehört dazu. Nichts wird unmenschlich, nichts wird unwürdig, nichts wird willkürlich sein, aber im Rahmen dessen, was zumutbar ist, werden wir uns in Deutschland auf den Weg machen müssen. Zumutbare Arbeit heißt auch, dass jemandem etwas abverlangt wird. Wir verabschieden uns von der überwiegenden Verwaltung und Finanzierung der Arbeitslosigkeit. Das Geld, das wir viel zu lange dafür ausgegeben haben, brauchen wir für Kindergärten, Schulen, Hochschulen. Wir dürfen nicht länger auf Kosten der Zukunft leben.
Wo wollen Sie die ganze zumutbare Arbeit hernehmen, die Sie brauchen, damit Hartz IV halbwegs funktioniert?
Natürlich brauchen wir vor allem anderen mehr Wachstum und die Bereitschaft der Wirtschaft, auszubilden und Arbeitsplätze zu schaffen. Daneben wird es beispielsweise eine Vielzahl von Beschäftigungsmöglichkeiten in Kommunen und bei Wohlfahrtsverbänden geben. Das wird vor Ort zu entscheiden sein, aber ich schätze, dass wir für mindestens zehn Prozent, wenn nicht mehr, der heute Langzeitarbeitslosen solche Arbeitsgelegenheiten schaffen können. Das sind irgendwo zwischen 300000 und 600000 Menschen, die darauf auch angewiesen sind. Das werden wir sehen. Wir werden dazu mit den Ländern, den Schulen, mit den Kindergärten sprechen. Unternehmen, Verwaltungen, Kommunen, Stiftungen, Verbände, alle müssen die Tore aufmachen für Ausbildung und Beschäftigung.
Geht's etwas konkreter?
Wir haben 30000 arbeitslose Erzieherinnen, die brauchen wir eigentlich in ganz Deutschland. Ähnlich ist es mit den 70000 arbeitslosen Ingenieuren. Wir haben einen gewaltigen Personalbedarf in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen, in der Kinderbetreuung ebenso wie in der Altenpflege, in der Ganztagsbetreuung, in den Schulen und übrigens auch im Umwelt- und Naturschutz, wir haben Tausende unbesetzter Zivildienststellen. Wir müssen in der Lage sein, diesen Bedarf mit denen zu decken, die teilweise schon lange arbeitslos sind. Die Agenturen für Arbeit können dabei - auch mit Qualifizierungs- und Übergangsmaßnahmen - helfen.
Haben Sie keine Angst, den Menschen zu viel zuzumuten?
Nein, wir fördern und wir fordern, aber wir muten meines Erachtens niemandem zu viel zu. Allerdings: Keiner Volkswirtschaft ist es so lange so gut gegangen wie unserer, da fällt der Abschied doppelt schwer.
Und wird als brutal empfunden.
Noch einmal: Das glaube ich nicht. Aber weil sie die Privilegierten angesprochen haben: Auch bei denen werden wir über einiges zu reden haben. So müssen wir - auch auf Drängen der Europäischen Kommission - dringend prüfen, ob das Standesrecht für die so genannten freien Berufe in Deutschland so aufrecht erhalten werden kann wie bisher. Da haben wir uns selbst gefesselt, da sind wir eine der reguliertesten Gesellschaften in Europa. Standesrecht, Honorarordnungen, Wettbewerbsverbote für Ärzte, Architekten, Ingenieure, Rechtsanwälte und viele andere - das ist in einer offenen Dienstleistungsgesellschaft, zu der wir in ganz Europa werden, nicht mehr angemessen.
Nach Hartz IV kommt Clement I?
Das wird bei den Lobbyisten eine Art Häuserkampf auslösen und betrifft nun wirklich nicht sozial Schwache.
Wie fanden Sie die Antrittsrede des neuen Bundespräsidenten Horst Köhler?
Sehr gut. Ich habe ihm etwas flapsig gesagt: "Was mache ich hier eigentlich noch? Sie können ja gleich meinen Job mit übernehmen."
War das nicht die Rede, die der Kanzler oder sein Wirtschaftminister längst mal hätten halten müssen?
Das weiß ich nicht, es war jedenfalls eine klasse Rede. Man muss nicht jede notwendige Veränderung mit griesgrämigem Gesicht verkünden. Das hat der Bundespräsident verstanden. Das fand ich begeisternd.
Als Gerhard Schröder den SPD-Vorsitz an Franz Müntefering abgab, haben Sie das intern heftig kritisiert. Fühlen Sie sich bestätigt darin, dass die Trennung von Kanzleramt und Parteivorsitz ein Fehler war?
Das ist erörtert worden und für mich ad acta gelegt. Der Kanzler und der Vorsitzende haben sich entschieden.
Das war keine Antwort auf die Frage.
Doch, das war meine Antwort darauf.
Reservekanzler sind Sie nicht mehr.
So habe ich mich nie gesehen. Ich bin auf Bitten Gerhard Schröders für die Themen Wirtschaft und Arbeit nach Berlin gekommen. Das ist es.
Sie sehen sich also noch regelmäßig - auch außerhalb des Kabinetts?
Ja, natürlich. Ich kann den Kanzler jederzeit erreichen, wenn ich das will, und er mich sowieso.
Können Sie auch mit dem neuen Parteichef entspannt Pils trinken?
Ja, sicher. Unser Verhältnis wird oft falsch eingeschätzt. Ob beim Ausbildungspakt oder bei den Reformen zum Arbeitsmarkt: Das war und ist engste und zuverlässigste Zusammenarbeit.
In der Sie sich jedes Mal durchsetzen.
Nein, in der wir an einem gemeinsamen Ziel arbeiten.
Wie hoch darf die Arbeitslosigkeit Mitte 2006 sein, damit die SPD die Bundestagswahl noch gewinnen kann?
Wir werden vermutlich und hoffentlich unter vier Millionen sein und die Jugendarbeitslosigkeit drastisch gesenkt haben.
Und was ist wahrscheinlicher: dass Ihr geliebter VfL Bochum den Uefa-Cup gewinnt oder dass Rot-Grün über 2006 hinaus regiert?
Nichts ist unmöglich. Der VfL hat seine Erfolgschance früher, dann sehen wir weiter.