Im Fraktionssaal der Parteien mit dem großen "C" werfen sie Blumen ins offene Grab ihres Kandidaten. Wie einzigartig seine politische Lebensleistung sei, barmt Angela Merkel. Einer unserer Allerbesten, schmachtet Friedbert Pflüger.
Der Mann, um den CDU wie CSU knapp pflichtgemäß trauern, sitzt derweil hundert Meter Luftlinie entfernt in seinem Reichstagsbüro. Zwei Menschen, die ihm engstens zugetan sind, haben Wolfgang Schäuble soeben besucht. Hans-Peter Repnik, sein langjähriger Parlamentarischer Geschäftsführer, und Thomas Strobl, Schwiegersohn und CDU-Abgeordneter.
"So ist Politik"
"Nein", sagt Schäuble, "es gibt keine Rachegefühle. Ich fühle mich befreit." Er trägt offenes Hemd und den geliebten dunkelblauen Pulli. Das Jackett, das Falten wirft im Rollstuhl und dann drückt, liegt quer über einem Stuhl. Schäuble raucht Pfeife, unentwegt. Und gibt sich ganz ruhig. Blickt auf das gerahmte Foto mit seiner Frau Ingeborg und den vier Kindern. "So ist Politik", sagt er und bläst Rauchwolken in die Luft, als wolle er sich von schwerer Last befreien. "Ich kenne die Regeln." Auch wenn man es ihm nicht abnehme, sagt er, "aber ich bin ganz entspannt".
Natürlich stimmt das nicht. Vor ihm liegt der Pressespiegel der CDU/CSU-Fraktion vom Tage. "Union lässt Schäuble fallen" und "Schäuble scheitert an Westerwelle" schreien ihn die Schlagzeilen an. Darunter wird die Geschichte erzählt, wie ihn Parteifreunde für ihr Machtstreben benutzten. Wie sie einem Mann fairen Umgang verweigerten, der der Politik seine Gesundheit geopfert und sich Verletzungen zugemutet hat, die einen anderen als den protestantischen Pflichtmenschen zerbrochen hätten.
Er wird weitermachen, als Abgeordneter und als stellvertretender Fraktionschef. "Ich bin nicht wirklich beschädigt", lügt er. Von anderen Beteiligten des Präsidentenschachers lasse sich das nicht sagen. Wie weh tut es, dass einmal mehr ein Lebenstraum zerbrochen ist? "Anderes hat mir stärker wehgetan." Der Satz schlüpft wie ein Seufzer aus seinem Mund. Zum Beispiel? Schäuble schweigt.
Was hätte der Alte wohl gesagt?
Gleich wird er in den Handlauf seines Rollstuhls greifen und durch den unterirdischen Tunnel in den Reichstag hinüberrollen. Das Plenum debattiert über Afrika. "Da muss ich hin", sagt er. Sein Blick geht hinauf zu dem Porträt Adenauers, das an der Wand hängt. Was hätte der Alte wohl gesagt, wenn er die Manöver von Angela Merkel, Edmund Stoiber und Helmut Kohl ums Präsidentenamt noch erlebt hätte? Schäuble schweigt lange, dann lässt er dem Sarkasmus freien Lauf: "Der war im Umgang mit Menschen doch noch skrupelloser."
Angela Merkel führt an diesem Tag im vertraulichen Gespräch mit Journalisten schmunzelnd gute Laune vor. Sie zitiert Kohl und dessen brutalstmögliche Machtmaxime: "Entscheidend ist, was hinten rauskommt." Kohl, ebenfalls in wonniger Laune, präsentiert den ersten Band seiner Memoiren, die bis zum Jahr 1982 reichen, dem Beginn seiner Kanzlerschaft. Im Namensregister sucht man vergeblich nach Schäuble, obgleich der doch seinerzeit geradezu Kommandeur der "Kampfgruppe Kohl" gewesen war.
Thomas Strobl findet das alles "zum Kotzen". Der Schwiegervater ist wieder einmal für die Machtinteressen anderer benutzt worden - wie schon so oft in seinem politischen Leben, das eine Tragödie genannt werden muss. Nicht nur, weil er seit 1990 im Rollstuhl sitzt, gelähmt durch Kugeln vom Kaliber 38 aus der Waffe eines Psychopathen.
Helmut Kohl und Angela Merkel, jeder für sich und beide gemeinsam - das sind seine Schicksalsfiguren. In hintergründigen Flüstereien und vordergründiger Besorgnis haben sie seine Schwächen zu Waffen gemacht. Dass er als Fraktionschef oft die Grenze zwischen Argumentieren und Niedermachen überschritten hatte: "Reden Sie nicht solchen Schwachsinn", bürstete er zuweilen Parteifreunde ab. Mehr noch aber, dass er 1999 den Bundestag belogen hat, als es um die ominöse 100000-Mark-Spende ging, die ihm der Waffenlobbyist Schreiber übergeben hatte. Kühl kalkuliert, nach der Maxime: Die Macht kommt vor der Wahrheit. Heute schimpft sich Schäuble selbst dafür: "Ich Idiot." Als er seinerzeit aus dem Bundestag in sein Büro zurückgekehrt war, hatte ihn schon sein Sprecher Walter Bajohr mit den Worten empfangen: "Jetzt haben Sie einen schweren Fehler gemacht."
Kohls nützlicher Idiot
Kohl hat sich darüber amüsiert. "Wann trittst du zurück?", griente er. Da endlich begriff Schäuble: Es war nur eine leere Geste, dass Kohl sich einmal mit ihm im Kanzleramt mit der Bemerkung "Wir sind Freunde" ablichten ließ. Nichts waren die Tränen wert, die der Oggersheimer nach dem Attentat in der Intensivstation für ihn vergossen hatte. Er war nur Kohls nützlicher Idiot, eine Figur im Machtspiel des großen Egomanen. Er trat zurück, vom Partei- und vom Fraktionsvorsitz.
Schäuble war auch Angela Merkel nicht gewachsen. Sie hatte schon im Dezember 1999, als er noch ihr Chef war, den eigenen Aufstieg an die Parteispitze eingeleitet, als sie hinter seinem Rücken in der "Frankfurter Allgemeinen" mit Kohl abrechnete. Sie wusste genau, dass Schäuble sie nicht feuern würde. Denn sie kannte seine Bundestagslüge: Sie hatte dabeigesessen und zugestimmt, als die CDU-Führung im kleinsten Kreis Wochen zuvor beschloss, die Schreiber-Spende erst später zu offenbaren.
Kaum war Merkel CDU-Vorsitzende, ließ sie ihre Wasserträger von einem "zerrütteten Verhältnis" flüstern, mied seine Nähe, den Rat sowieso. Beim Streit zwischen Schäuble und der früheren Schatzmeisterin Brigitte Baumeister über die Umstände der Übergabe jener 100000-Mark-Spende Schreibers stimmte sie zu, dass die Anwaltskosten seiner Gegnerin teilweise aus der CDU-Kasse bezahlt wurden. Und als Baumeister ihm in ihrem Rachebuch unerfüllte erotische Zuneigung als Motiv unterstellte, verteidigte Merkel ihn erst dann lauwarm in der Öffentlichkeit, als er in seinem Büro tobte. "Sie ist nie hingestanden für mich, ich bin sehr enttäuscht von ihr", klagte Schäuble einmal vor Vertrauten.
Die Hoffnung war naiv. Denn Angela Merkel hat in ihrer Karriere noch für keinen gestanden, wenn der Einsatz mit Risiko verbunden war. Sie benutzt Menschen, solange sie ihr nützen. In Schäubles Fall war sie sogar Wiederholungstäterin. Sie hat ihn gezielt fallen gelassen.
Als er Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung werden sollte, was zwischen Merkel und dem damaligen Fraktionschef Friedrich Merz fest abgesprochen war, wurde die Nachricht in den "Spiegel" lanciert. Ihm blieb nur das Dementi. Kohl hatte den Job längst Bernhard Vogel versprochen. Die Machtachse Kohl - Merkel funktionierte auch, als Schäuble 2001 Spitzenkandidat bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus werden sollte. Merkel hatte das mit ihm verabredet, gab ihn aber verloren, als in der Berliner CDU argumentiert wurde, man könne nicht mit einem Rollstuhlfahrer gegen einen Schwulen antreten. Und dennoch, sagt einer der wenigen, denen Schäuble zuweilen einen Blick in die Seele erlaubt, habe er versucht, "seine Grundsympathie für Angela Merkel zu erhalten".
"Ich möchte nicht noch mehr verletzt werden, als dies bereits geschehen ist. Ich habe genügend Verletzungen aushalten müssen, mein Bedarf ist gedeckt", sagte er ihr, als es um die Präsidentschaft ging. Er hatte Vertrauen. "Ich fürchte, das Amt kommt auf mich zu", sagte er noch wenige Tage, bevor die Entscheidung gegen ihn fiel. Da hatte ihn Richard von Weizsäcker ermuntert: "Sie müssen es werden!" Und er hatte darüber nachgedacht, wie er das Amt ausfüllen wollte, nämlich als "Präsident, der Mut zur Veränderung macht". Angela Merkel kam erst am Abend der Hamburg-Wahl zu ihm, um ihr monatelanges Schweigen zu brechen: "Wollen Sie Bundespräsident werden?" Doch an diesem Abend war schon klar, dass er es nicht mehr werden konnte.
Letzter Lebenstraum zerbrochen
Erst die Kanzlerschaft, dann die Präsidentschaft - Schäubles zweiter und letzter Lebenstraum ist zerbrochen. Weil Edmund Stoiber und Merkel nicht für ihn standen, weil Helmut Kohl gegen ihn intrigierte. Stoiber hatte ihn gefragt, ob er notfalls auch drei Abstimmungen in der Bundesversammlung durchstehen werde. Schäubles Antwort: "Wenn Sie durchhalten, halte ich auch durch." Der Bayer stand nicht. Die CDU-Vorsitzende nie. Merz gehört zu den wenigen, die Kritik wagen und von "Sauerei" sprechen: "Gerade er hatte es verdient, dass man ihm im Vorfeld reinen Wein einschenkt." Repnik ergänzt: "Er wäre als Präsident ein Glücksfall für die Republik gewesen."
Irgendwann am vergangenen Samstagabend hat Wolfgang Schäuble eine Flasche entkorkt, den geliebten Grauburgunder aus der badischen Heimat, hat die Gläser mit seiner Frau klingen lassen und vielleicht noch einmal lächelnd aus "Torquato Tasso" zitiert, wie bei seiner letzten Rede als Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU: "So selten ist es, dass Menschen finden, was ihnen doch bestimmt gewesen schien." Johannes Rau hat angerufen bei ihm und auch bei Ingeborg Schäuble, um sein Mitgefühl zu übermitteln. Traudl Herrhausen, die Witwe des von Terroristen ermordeten Bankiers, hat ihren Austritt aus der CDU erklärt. Und 72 Prozent der Deutschen, das zeigt eine Forsa-Umfrage für den stern, sehen den Fast-Kandidaten unfair behandelt.
Ingeborg Schäuble war beschwert und erleichtert zugleich an diesem Abend. Sie hatte, mühsam genug, die Kandidatur ihres Mannes für das Präsidentenamt akzeptiert, obwohl sie dann nicht länger Präsidentin der Welthungerhilfe hätte bleiben können - eine Aufgabe, die sie liebt, "die mich ausfüllt, die mich fordert und für mich Sinn macht". Sie war dagegen, dass Schäuble die Kanzlerschaft anstrebte - und hat das Kohl öffentlich wissen lassen. Sie lehnte überhaupt den faustischen Pakt ihres Mannes mit der Politik ab, weil sie sich ihr Leben so nicht vorgestellt hatte, als sie ihn heiratete. "Mensch, komm, mach doch mal was anderes", hat sie ihn immer wieder gedrängt. Vergeblich.
"Warum habt Ihr mich nicht sterben lassen?"
Stattdessen saß sie nach dem Attentat, wie Schäuble sagt, "zur Hälfte mit mir im Rollstuhl". Am Krankenbett hielt sie seine verzweifelte Frage aus: "Warum habt Ihr mich nicht sterben lassen?" Und sie setzte sich einmal in den Rollstuhl, um zu erfahren, wie die Welt von da unten aussieht. "Man ist ausgeliefert, man ist so klein", lernte sie dabei.
Irgendwann an diesem Samstagabend hat Schäuble zu seiner Frau hinübergebrummelt: "Sch' kummt wie 'sch kummt!" Und irgendwann den Satz gesagt, den er auf seinem Lebensweg, auf dem er sich zuweilen selbst beschädigt hat und auf dem andere ihn so oft an Körper und Seele verletzt haben, immer wieder gesagt hat: "Auch gut, dass der Kelch vorübergegangen ist."
Bitter klang das allerdings, sehr bitter.