Zwischenruf Auf still folgt schrill

Sie haben sich umarmt, nun schlagen sie sich wieder: Für Union und SPD hat der Wahlkampf begonnen, trotz Großer Koalition. Er wird nicht mehr aufhören bis zum Herbst 2009 - und die Politik zunehmend ersticken stern Nr. 12/2007

Das Zeitfenster schließt sich. Anderthalb Jahre hat sich die Große Koalition an ihren Projekten abgearbeitet: Gesundheit, Rentenalter, Föderalismus, Unternehmensteuern. Anderthalb Jahre waren nach dem Selbstverständnis von Union und SPD der Sacharbeit gewidmet. Nun geht diese Phase zu Ende, und wer das tägliche Durcheinander, die verwirrenden Schachzüge, die Debatten unter- und gegeneinander, den gleitenden Übergang von still zu schrill begreifen will, ohne am Verstand der Akteure zu zweifeln oder selbst daran irre zu werden, der sollte alles, was fortan geschieht, bis zum Herbst 2009, bis zur nächsten Bundestagswahl, unter einem einzigen, alles überwölbenden Gesichtspunkt verfolgen: Der Wahlkampf hat begonnen.

Permanenter, hochschäumender Machtkampf, Kampf um Positionen und Kompetenzen - echte und vorgetäuschte -, um Gewinn oder Verlust von Terrain. Nichts dient von nun an ausschließlich dem Land - ach ja, dem Volk -, alles wird auch oder vor allem den Interessen der Partei unterworfen. Denn über die Bremer Landtagswahl in diesem Mai drängt alles dem Wahljahr 2008 entgegen: zunächst Landtagswahlen in Hessen, Niedersachsen und Hamburg, dazu Kommunalwahlen in Bayern und Schleswig-Holstein, im Herbst dann Landtagswahlen in Bayern und Kommunalwahlen in Brandenburg. Im Jahr darauf, 2009, werden noch vor dem Bundestag der Bundespräsident und das Europa-parlament gewählt, daneben in acht Ländern die Kommunalparlamente und in vier die Landtage. Ende der Politik, wie sie der Staatsbürger erhofft. Anfang der Politik, wie sie die Parteien lieben. Ein einziger Taumel von Strategie und Taktik.

Der Streit um die Kinderbetreuung ist ein anschauliches Beispiel dafür. Ginge es allein um die Sache, um neue Krippenplätze, wäre Ursula von der Leyen damit ins Kabinett gegangen und die Koalition hätte einen gemeinsamen, abgestimmten Finanzierungsplan erarbeitet. Völlig entspannt. Der CDU-Avantgardistin aber ging es vor allem darum, der SPD ein zentrales Kompetenzfeld zu entwinden - das für moderne Frauenpolitik und frühkindliche Bildung. Das Ziel: Eroberung junger, großstädtischer Wählermilieus. Ein voller Erfolg. Wer erinnert sich heute noch daran, dass das Elterngeld eine sozialdemokratische Idee war?

Die SPD, mächtig erschrocken, reagierte darauf so falsch, wie sie nur konnte: Sie mäkelte zunächst daran herum, bevor sie unter Aufbietung der Parteiprominenz, ebenfalls im Alleingang und außerhalb des Kabinetts, ein zwar mutiges und halbwegs schlüssiges Finanzierungskonzept präsentierte - Verzicht auf die nächste Erhöhung des Kindergeldes und Abstriche beim Ehegattensplitting -, der CDU damit aber Gelegenheit bot, sich als Schutzmacht der kleinen Leute in die Brust zu werfen und den schönen Plan genussvoll mit sozialdemokratischem Gerechtigkeitspathos zu zerpflücken.

Für die SPD ist die Bilanz der Koalition heute tiefrot. Die CDU hingegen hat die sonnenbeschienenen Plätze okkupiert, sie inszeniert ihren eigenen Richtungsstreit

Für meuternde Provinzler, reaktionäre Bischöfe und verkniffene Familienideologen wurde zugleich eine Gegenfigur zu von der Leyen aufgeblasen: Fraktionschef Volker Kauder. Er hat, gesegnet von der Kanzlerin, den Auftrag übernommen, irritierte Traditionstruppen bei der Fahne zu halten - und die Spannweite der Volkspartei CDU zu verbreitern. Ihre Flügel sind verkümmert, also klebt sie sich neue an - und inszeniert den Richtungsstreit in den eigenen Reihen als Erweiterung ihres politischen Angebots. Von der Leyen "links", Kauder "rechts". Angela Merkel in der Mitte.

Nach diesem Modell hat die Union inzwischen auch das Kompetenzfeld der Umweltpolitik erobert. Die Kanzlerin sucht als grüne Retterin des Weltklimas und Heroldin der sanften Energien in Europa zu beeindrucken, gleichzeitig zieht ihr Wirtschaftsminister Michael Glos als konservativer Kämpfer in die Schlacht für die Atomkraft. Und der einst so vorlaute Sigmar Gabriel, der glaubte, wegen seiner innerparteilichen Karrierepläne eine stille Bewährungsphase abdienen zu müssen, sieht seine Felle als sozialdemokratischer Umweltminister davonschwimmen. Die Rolle des Atomblockierers gönnt ihm Merkel. So liebt sie die SPD - defensiv. Und nun nörgelt auch noch Peter Struck über "Klima-Hysterie"... Für die Sozialdemokraten, die mit den überzeugenderen Ministern angetreten waren, ist die Bilanz der Koalition heute tiefrot. Sie haben ausschließlich jene Großreformen besetzt, die sie selbst zerstören: Rente mit 67, Gesundheit, Unternehmensteuern. Ihre Debatten sind nach innen gerichtet und verkürzen die Spannweite der Volkspartei SPD. Sie kann aktuell mit keinem einzigen Zukunftsprojekt mehr wuchern. Die CDU hingegen hat die sonnenbeschienenen Plätze okkupiert, als allumfassende sozialdemokratisch-konservative Mutter. Wirtschaft: Merkel. Außenpolitik: Merkel. Umwelt und Energie: Merkel. Kapitalbeteiligung für Arbeitnehmer: Merkel. Frauen und Familie: von der Leyen. Integration von Ausländern und Muslimen: Schäuble. Sicherheit: Schäuble. Die CDU ist sich selbst genug für eine Große Koalition.

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Hans-Ulrich Jörges