Die Katastrophe in Wiesbaden hat die Katastrophe in Berlin denkbar werden lassen: die Katastrophe für Angela Merkel bei der Bundestagswahl 2009. Mag Roland Koch auch den glatten Machtwechsel in Hessen verhindert haben, so markiert sein Desaster doch das Desaster der Union - und das der Kanzlerin. Denn Kochs Kampagne gegen kriminelle ausländische Jugendliche trug eine verheerende Sub-Botschaft in sich, vom Wähler instinktiv begriffen: Die Union hat kein Thema mehr, mit dem sie gelassen Wahlen gewinnen kann. Sie hat ihr Kernthema Wirtschaftskompetenz verloren. Das aber ist der historische Gen-Code der Konservativen. In der Not inszenierte Koch einen Oppositionswahlkampf - und lenkte die Aufmerksamkeit auf eigene Defizite. Ein unbegreiflicher Fehler. Eine Panik-Attacke.
Das Krisenbild der Union gilt sogar für den vermeintlich strahlenden niedersächsischen Wahlsieger Christian Wulff: Er hat gegen den denkbar schwächsten Herausforderer fast sechs Prozent verloren. In anderem Umfeld, ohne Hessen, wäre das alleine Anlass für Alarmrufe. Ein stimmiger Persönlichkeitswahlkampf ist keine Erfolgsgarantie, wenn er nicht durch ein überzeugendes Kompetenzthema der Partei unterlegt ist. Einen Persönlichkeitswahlkampf aber plant auch Angela Merkel. Weder die Methode Koch noch das Modell Wulff versprechen ihr also den Sieg.
Damit haben sich die Vorzeichen in der Bundespolitik binnen eines halben Jahres dramatisch umgekehrt. Die Union ist in der Defensive, die SPD in der Offensive. Kurt Beck, lange als tumber Provinzler verhöhnt, hat mit der Klärung der innerparteilichen Machtfrage und der Linksverschiebung der Sozialdemokraten ein strategisches Meisterstück vollbracht. Nur noch hartnäckige Ignoranten können ihn heute unterschätzen. Angela Merkel aber, die scheinbar unschlagbare "Miss World", angeblich von Kohl'schem Machtformat und auf 16 Jahre Kanzlerschaft abonniert, ist angreifbar geworden, schlagbar. Die SPD hat sich gefunden, die Union verloren.
Das beginnt bei den Bündnisoptionen. Selbst in der schwächsten Phase der SPD ist die CDU/CSU 2007 nie über 40 Prozent gekommen - die müsste sie aber klar übertreffen, um mit der FDP zu regieren. Schwarz-Gelb schwankt zwischen 46 und 49 Prozent: Was der eine gewinnt, verliert der andere - bürgerliches Nullsummenspiel. Eine Jamaika-Koalition mit den Grünen ist Illusion, seit die nach links drängen. In Wahrheit hat Angela Merkel nur eine verlässliche Machtoption: die Große Koalition. Und so regiert sie auch. Beck dagegen kann 2009 auf den Wechsel der FDP in eine Ampelkoalition setzen, wenn die Alternative Große Koalition lautet und es für Guido Westerwelle um Kopf und Kragen geht.
Angela Merkels Machtsystem, auf Loyalität statt auf Kompetenz gebaut, stößt an seine Grenzen. Personell ist es ausgelaugt und konturlos. Die einst vielversprechenden Ministerpräsidenten sind landespolitisch geschwächt oder haben bundespolitisch resigniert: Roland Koch, Günther Oettinger, Ole von Beust, Georg Milbradt, Christian Wulff. Dem Unionsteil des Kabinetts - Ausnahme: Ursula von der Leyen - fehlt jeder Glanz. Alle hatten sich dem strahlenden Bild der Kanzlerin unterzuordnen - doch dessen Glanz verblasst.
Denn die Union hat Reformkraft und Wirtschaftskompetenz verspielt, als sie in die Mindestlohn-Falle der SPD ging. Das Fanal der Kapitulation war der Post-Mindestlohn von 9,80 Euro. Bei kippender Konjunktur wird das zur Hypothek. Ohne Idee, auf die sich ihre Anhänger berufen könnten, ist die Union nicht kampagnenfähig. Gegen links ist zu wenig. In Bayern und Baden-Württemberg, wahlentscheidend, wächst die Enttäuschung konservativer Wähler, denen die Frau aus dem Osten noch immer fremd ist. Parteiaustritte im Südwesten illustrieren die Abwendung. Merkels moderne CDU gilt dort als Wischiwaschi-Partei.
DAS MACHTSYSTEM DER KANZELRIN STÖSST AN SEINE GRENZEN.
CSU-Chef Erwin Huber könnte als Wirtschaftsminister den unglücklichen Michael Glos ablösen.
Die SPD hat die Mitte nach links verlassen und neue Kontur gewonnen. Die Union hielt sich für unschlagbar, weil ihr die Mitte alleine gehöre. Nun verliert sie sich in dieser diffusen Mitte, weil sie ihr zu wenig Substanz gibt. Linke Hegemonie diktiert die Themen: Unten und Oben, Mindestlöhne und Managergehälter. Die soziale Mitte ist in der Debatte vergessen.
Merkel braucht einen neuen Anfang. Politisch durch konturierte Wirtschaftspolitik, auch gegen die SPD. Personell durch Umbildung des Kabinetts auf Unionsseite. CSU-Chef Erwin Huber könnte als Wirtschaftsminister den unglücklichen Michael Glos ersetzen, vor der Bayern-Wahl im Herbst. Roland Koch ist auf diesem oder einem anderen Stuhl denkbar, falls er sich in Hessen nicht hält. Und Kanzleramtsminister Thomas de Maizière sollte in Sachsen rasch Georg Milbradt ablösen. Das Machtkarussell wartet auf die Kanzlerin.