Wir nehmen die Welt anders wahr. Wir beobachten veränderte Einstellungen an uns. Gut möglich, dass wir auch dauerhaft die Zeit anders einteilen. Nach Mohammed. Nach dem Furor islamischer Massen wegen der Schmähung des Propheten in einem dänischen Provinzblatt. Vor Mohammed glaubten wir, die Amerikaner allein, vielleicht noch die Briten, seien Ziele des Hasses der Muslime - selbst verschuldet durch imperiale Arroganz oder hündische Gefolgschaft.
Nach Mohammed erfahren wir, dass es den friedfertig-ausgleichenden Europäern nicht besser ergeht, allen "Christen", ja selbst uns, die wir uns geradezu geliebt sahen in der arabischen Welt. Vor Mohammed hielten wir Geiselnahmen an Deutschen im Irak für minder gefährlich, eine unzivilisierte Methode, an unser gutes Geld zu kommen. Nach Mohammed stockt uns der Atem, weil Islamisten auch deutsches Blut vergießen könnten. Vor Mohammed sahen wir die atomaren Ambitionen des Iran nur als Bedrohung Israels. Nach Mohammed begreifen wir, dass Europa Kriegspartei würde, und wir beginnen, die Reichweite iranischer Raketen auch in unsere Richtung zu kalkulieren.
Vor Mohammed betrachteten wir die Muslime in Deutschland als unsere Muslime, deren Integration in eine aufgeklärte Kultur nur eine Frage der Zeit sei, erledigt mit der dritten oder vierten Generation. Nach Mohammed dämmert uns endgültig, dass das eine folgenschwere Selbsttäuschung ist, weil viele muslimische Kinder auch in der dritten Generation des Deutschen nicht mächtig sind und auch sonst in kulturellen Enklaven leben. Vor Mohammed hielten wir den 18-Jährigen, der seiner Freundin das acht Monate alte Baby im Leib tottrat, für einen spektakulären Fall von Rohheit. Nach Mohammed quält uns die Aussage des muslimisch-mazedonischen Vaters in dem Lübecker Prozess, dass er seinen Sohn verstieße, wenn der eine Christin heiraten würde.
Vor Mohammed haben uns die Verhältnisse in den islamischen Ländern, und das sind im Kern die arabischen, in Wahrheit nicht interessiert. Islamistischen Terror hielten wir für eine im Wortsinn verständliche Antwort auf israelisches Unrecht und amerikanischen Unverstand. Nach Mohammed sollten wir, um wirklich zu erkennen, einen Bericht der Vereinten Nationen lesen, den Arab Human Development Report 2003, der ausschließlich von arabischen Autoren geschrieben wurde. Darin werden auf 210 Seiten schonungslos die "drei Defizite" der arabischen Welt analysiert: "Freiheit, Frauenrechte und Wissen."
Wir hielten die Integration der Muslime nur für eine Frage der Zeit - nun dämmert uns endgültig: Das war eine Selbsttäuschung
Wir erfahren, dass dort die Bildungsausgaben seit 1985 gesunken sind. Dass auf 1000 arabische Bürger weniger als 53 Zeitungsexemplare kommen, 285 in den entwickelten Ländern. Dass Journalisten bedroht sind, mindestens durch Zensur. Dass die arabischen Staaten kaum auf ein Fünftel der Telefonanschlüsse von entwickelten Ländern kommen. Dass nur 1,6 Prozent der Araber Internetzugang haben und nur 18 von 1000 einen Computer im Vergleich zu 78,3 im globalen Schnitt. Dass in der ersten Hälfte der 80er Jahre für eine Million Araber 4,4 übersetzte ausländische Bücher erschienen, für eine Million Spanier aber 920. Dass bislang überhaupt nur 10000 Bücher ins Arabische übersetzt wurden, so viele wie in Spanien heute in einem einzigen Jahr. Dass 17 Prozent der arabischen Bücher religiöser Natur sind, im Rest der Welt nur fünf Prozent. Dass Arabisch in Zeiten von Internet und Computer "in einer echten Krise" steckt. Dass im arabischen Raum auf eine Million Menschen 371 Wissenschaftler und Ingenieure kommen, weltweit 979. Und dass in den USA von 1980 bis 2000 insgesamt 370 Patente aus arabischen Ländern angemeldet wurden, aus Israel allein 7652, aus Südkorea 16328.
Vor Mohammed haben wir in Deutschland fruchtlos über "Leitkultur" gestritten. Alle Versuche, die kulturelle, soziale und politische Integration von Muslimen, im Regelfall Türken, durchzusetzen, wurden schon allein sprachlich denunziert: der missratene Zuwanderer-Fragebogen aus Stuttgart als "Gesinnungstest", Deutsch als Pflichtsprache auf dem Schulhof als "Zwangsgermanisierung".

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Nach Mohammed dürfte der neue politische Ansatz, in vielen kleinen Schritten vorzugeben - so etwas wie Leitkultur praktisch -, mächtig werden. Um junge Frauen vor der Zwangsehe zu schützen, um Toleranz und demokratischen Regeln eine Bresche zu schlagen, um Kindern eine Bildungschance zu geben. Vor Mohammed schrieb mir eine am Beruf verzweifelnde Kinder- und Jugendpsychiaterin aus einer deutschen Industriestadt, sie habe Angst vor dem Überlegenheitswahn und der Aggressivität junger Türken. Nach Mohammed nehme ich sie sehr ernst.
Vor Mohammed sagte mir ein Diplomat aus Paris: "Jede EU-Erweiterung muss in Frankreich per Referendum abgesegnet werden. Seien Sie ganz sicher: Die Türkei kommt nicht in die EU." Nach Mohammed neige ich dazu, ihm zu glauben.