"Die Menschen in Nordsyrien fühlen sich von der Welt vergessen und verlassen – das ist kein neues Gefühl nach 12 Jahren Krieg", sagt die Journalistin Kristin Helberg in 466. Folge "heute wichtig". Die Politikwissenschaftlerin hat selbst lange in Damaskus gelebt, Syrien ist ihr Spezialgebiet.
Inzwischen weiß man, dass über 40.000 Menschen bei dem Erdbeben in der Türkei ums Leben gekommen sind, in Syrien schätzt man die Zahl der Todesopfer auf über 5000. Hunderttausende sind obdachlos geworden, etwa fünf Millionen Menschen müssten humanitär versorgt werden, sagt Kristin Helberg im Podcast. Das Gebiet in der Provinz Idlib ist abhängig von den Hilfen der UN, nur: "Die waren viel zu zögerlich. Erst an Tag vier kamen Hilfsgüter an." Was allerdings immer fehlte, waren Bergungsgeräte: "Bis heute hat kein Bagger und kein Räumgerät die Grenze nach Syrien passiert."
Für viele kommt jede Hilfe zu spät: "Dort liegen Leichen, die verwesen"
Die bittere Wahrheit: Für die Menschen unter den Trümmern ist es nun sowieso zu spät, "aber dort liegen Leichen, die verwesen", sagt Kristin Helberg. "Die Menschen sitzen in leeren Zelten. Da haben Frauen und Kinder noch die Klamotten von der Nacht des Erdbebens an, das ist wirklich dramatisch." Der Rückzug der Hilfsorganisation bedeutet, dass es kaum mehr Hoffnung gibt, Überlebende zu finden. Aber die Menschen, die zurückbleiben, sind nun besonders in Gefahr: Die Weltgesundheitsorganisation befürchtet, dass – zum Beispiel durch den Ausbruch von Krankheiten und Seuchen – mehr Menschen sterben als durch die Katastrophe selbst. Es braucht also weiterhin dringend Hilfe von außen.
"Das Problem in Syrien ist: Die gesamte humanitäre Hilfe soll über Damaskus laufen", erklärt Kristin Helberg im Gespräch mit "heute wichtig"-Host Michel Abdollahi. "Darauf besteht das Regime und auch seine Unterstützer wie Putin." Deshalb sei es in den vergangenen Jahren immer mehr erschwert worden, in Gebiete zu gelangen, die nicht vom Regime kontrolliert wurden.
"Das Assad-Regime bestimmt, wem in Syrien geholfen wird und wem nicht"
Nun hat Syriens Präsident Baschar al-Assad neben dem einzig geöffneten Grenzübergang Bab al-Hawa die dreimonatige Nutzung zweier weiterer Grenzübergänge erlaubt: Die Übergänge Bab Al-Salam und Al Ra'ee. "Das erscheint großzügig", sagt Kristin Helberg. Die Entscheidung sei erfreulich, dabei aber auch zynisch, sagt die Politikwissenschaftlerin. In Wirklichkeit habe Assad nur zugestimmt, dass die vom Westen finanzierte Hilfe jetzt auch die Menschen erreichen darf, die nicht in seinem Gebiet leben. "Das Assad-Regime bestimmt, wem in Syrien geholfen wird und wem nicht." Die Vereinten Nationen machten nichts ohne seine Zustimmung. "Also wird grundsätzlich nicht den Bedürftigsten geholfen, sondern den Loyalsten." Daneben bereichere sich die Präsidentenfamilie auch noch privat an den Hilfslieferungen.
"Erdoğan kann es sich nicht leisten, solidarisch zu sein mit den Syrern"
Und auf der türkischen Seite des Grenzgebiets entscheidet auch Präsident Recep Tayyip Erdoğan, wie es den syrischen Erdbebenopfern geht. Vor dem Beben habe sich Erdoğan mit Assad aussöhnen wollen, sagt Helberg. Denn er wollte ganz dringen syrische Geflüchtete zurück in die Heimat schicken. Das kann er jetzt nicht mehr tun, glaubt die Journalistin. Denn dazu hätte Erdoğan Häuser in Syrien bauen müssen, diese Ressourcen brauche man aber nun für den Wiederaufbau im eigenen Land. "Erdoğan kann es sich nicht leisten, solidarisch zu sein mit den Syrern, weil er nicht einmal seine eigenen Leute versorgt bekommt." Und die sind wütend, so sehr, dass auch die syrischen Erdbebenopfer im Süden der Türkei von Verteilungskämpfen betroffen sind.
Am Ende bleibt die Frage: Was verändert das Erdbeben? "Schafft es Erdoğan, sich in der Krise als ein Retter zu inszenieren oder wird er wirklich haftbar gemacht für das schlechte Krisenmanagement und die Versäumnisse beim Bau?" Offen bleibt auch, was das Erdbeben aus dem Verhältnis der beiden Machthaber Erdoğan und Assad macht, sagt Kristin Helber: "Vielleicht nutzen am Ende auch beide die Krise für den eigenen Machterhalt – auf Kosten des jeweils anderen?"
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