Scholz Rede zu Europa Der Kanzler und seine Europa-Grundsatzrede: "Vieles wird Wunschdenken bleiben"

Bundeskanzler Scholz während seiner Rede in der Prager Universität
Bundeskanzler Scholz hat seine Vorstellungen zur Zukunft der EU konkretisiert – unter anderem will er mehr militärische Kooperation. Wie die europäischen Medien das kommentieren, lesen Sie in der Presseschau.
© CTK Photo/Michal Kamaryt
Bundeskanzler Olaf Scholz hat in einer Grundsatzrede in Prag umrissen, dass er die EU stärker und unabhängiger machen will – unter anderem durch mehr militärische Kooperation. Eine richtige Forderung, urteilen viele Medien – die Presseschau.

Bundeskanzler Olaf Scholz umriss in seiner Rede seine Vorstellungen der Zukunft Europas und rief angesichts des Krieges gegen die Ukraine zu mehr Zusammenhalt und Solidarität auf. Erstmals seit Beginn des Krieges äußerte er sich auch konkret dazu, was er sich unter dem von ihm geprägten Begriff "Zeitenwende" vorstellt.

So forderte der Kanzler beispielsweise den Aufbau einer europäischen Eingreiftruppe bis 2025. Weiter sprach er sich für ein gemeinsames europäisches Flugabwehrsystem aus. Dass er seine Rede ausgerechnet in Prag hielt, hatte dabei eine symbolische Bedeutung: Die Prager Universität war bereits Schauplatz von einigen wichtigen Reden über die Lage der EU, etwa von Angela Merkel in der Finanzkrise 2008. So kommentiert die Presse den Auftritt des Kanzlers:

"NZZ": "Als Antwort auf die neuen geopolitischen Herausforderungen durch China und Russland soll die EU an Gewicht zulegen. Scholz sprach sich deshalb für eine Erweiterung der Union im Osten aus. Dieser Schritt war in der Vergangenheit von EU-Skeptikern wie den Briten propagiert worden, weil er eine Konzentration der Kompetenzen in Brüssel erschwert. Doch Scholz will beides, mehr Größe und mehr Macht. Der Schlüssel dazu ist die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips: Wenn einzelne nationale Regierungen unliebsame Beschlüsse in der Zentrale nicht mehr blockieren können, geben sie Garantien für ihre nationale Souveränität auf."

"Welt": "Es ist gut, dass dem deutschen Kanzler Olaf Scholz das hypertrophe Europa-Pathos von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen fremd ist. Mit seiner Prager Rede hat er gezeigt, dass man auch mit nüchternen Worten europäische Ambitionen ausdrücken kann. Doch auch wenn Scholz eine gute Rede gehalten hat: Vieles wird Wunschdenken bleiben, denn grundlegende Reformen in dieser EU sind nicht zu erwarten. Dazu müssten die europäischen Verträge geändert werden – völlig undenkbar in den kommenden 15 bis 20 Jahren."

"Der Spiegel": "Scholz spricht gewohnt monoton, die Studentinnen und Studenten honorieren seine Worte mit höflichem Applaus, obwohl sich der Kanzler gegen Ende sogar ein paar Sätze auf Tschechisch abringt. Die anschließende Fragerunde ist gestrichen, aus Zeitgründen, wie es heißt. Und doch, es ist auch eine Rede mit großen Ambitionen, die Scholz da referiert. Sollten sich seine Ideen zur einer 'geostrategischen EU' tatsächlich umsetzen lassen, dann wäre die Europäische Union in naher Zukunft eine völlig andere als sie heute ist: Deutlich größer, deutlich stärker nach Osten orientiert, deutlich pragmatischer, deutlich militärischer, unabhängig in vielen Bereichen, selbst bis in den Weltraum hinein."

"Zeit": "Es bleibt dabei, wie Scholz erneut bekräftigt: 'Putins Russland definiert sich auf absehbare Zeit in Gegnerschaft zur Europäischen Union. Jede Uneinigkeit zwischen uns, jede Schwäche wird Putin ausnutzen.' Und es stimmt auch, was oft genug festgehalten wurde: dass viele unterschätzt haben, wie geschlossen Europa dem Angriff auf die Ukraine begegnen würde, allen voran der Aggressor selbst. Aber quer durch diese Gemeinschaft klaffen weiter große Risse: politisch, ökonomisch, kulturell. 'Deutschland, als Land in der Mitte des Kontinents, wird alles dafür tun, Ost und West, Nord und Süd in Europa zusammenzuführen', sagt der Kanzler. Das ist vielleicht noch wichtiger als alles andere."

"Rheinpfalz": "Die Gelegenheit für Reformen in der Europäischen Union ist günstig. In Frankreich ist unlängst der europafreundliche Staatschef Emmanuel Macron wiedergewählt worden. Die Briten, die oft genug Bremser bei angestrebten Änderungen waren, sind ausgetreten, die USA werden wieder von einem Präsidenten geführt, der es gut meint mit den EU-Staaten. Russlands Aggression wiederum führt den Europäern jeden Tag den Wert von Kooperation und Solidarität vor Augen. Ewig wird das Zeitfenster für Reformen gleichwohl nicht offen stehen. Deshalb: Die Zeit für mehr Europa ist jetzt."

Video: Scholz will gemeinsames Luftabwehrsystem für Nordeuropa
Scholz will gemeinsames Luftabwehrsystem für Nordeuropa

"Neue Osnabrücker Zeitung": "Nein, ein emotionaler Aufschneider ist Olaf Scholz wahrlich nicht. In seiner europapolitischen Grundsatzrede an der Karls-Universität in Prag hat der Bundeskanzler in gewohnt sachlicher, fast blutleerer Manier seine Vision für die Zukunft der Gemeinschaft dargestellt. Technologisch führend in vielen Bereichen soll sie werden, als weltpolitischer Akteur souveräner und im Bereich Verteidigung effizienter zusammenarbeiten. Wer wollte dazu schon Nein sagen?"

"Rhein-Neckar-Zeitung": "Ein gemeinsames Luftabwehrsystem der Europäischen Union – das klingt angesichts von Putins Krieg in der Ukraine erst einmal vernünftig. Allerdings würde die EU dadurch zu einer Art zweiter Nato. Aus dem Wirtschaftsbündnis würde ein Verteidigungsbündnis. Scholz wies ausdrücklich auf die Beitrittskandidatin Ukraine hin, auf Moldau, die Westbalkanstaaten und sogar Georgien. Zu Ende gedacht bestätigt Scholz mit diesem Szenario sogar die Begründung Russlands, es sei deshalb in die Ukraine einmarschiert, weil Nato und EU immer näher an die Landesgrenzen rückten. Mit Scholzens Plan wären das Verteidigungsbündnis Europäische Union und Russland über viele tausend Kilometer direkte Nachbarn. Für den Fall, dass Russland den Krieg um die Ukraine niederschmetternd verliert, wäre das vielleicht eine Option - ansonsten jedoch ein weiterer latenter Kriegsgrund. Soll Deutschland ins Risiko?"

"Frankfurter Allgemeine Zeitung": "Wollen die Europäer weiter nach ihren eigenen Vorstellungen von Demokratie, Menschenrechten und Marktwirtschaft leben, dann müssen sie ihr Zusammenwirken auf allen wichtigen Politikfeldern intensivieren und schlagkräftiger organisieren. Auch Scholz musste an der Karls-Universität lange reden, um all die Punkte behandeln zu können, mit denen sich die europäische Reformdebatte schon lange quält. (...) Auch in Deutschland, das sich als europäischer Musterknabe versteht, müssten sich viele erst an den Gedanken gewöhnen, bei Entscheidungen über die Migrationspolitik, das Schuldenmachen oder Militäreinsätze überstimmt zu werden. Den Nationen des freien Europas sollte jedoch schon klar sein, dass sie ihre Freiheit und ihren Wohlstand zusammen besser und dauerhafter verteidigen können als jede für sich."

rw