Wanzleben, eine kleine Stadt in Sachsen-Anhalt. Mit dem Bus von Magdeburg aus braucht man eine halbe Stunde dort hin, an Erdbeer- und Kartoffeläckern vorbei. Es sind Sommerferien, im Bus sitzen vor allem Jugendliche. Das Gespräch zweier junger Frauen kreist um die Arbeitssuche, Hartz IV, Krankheit und ein persönliches Ausgabenlimit von 10 Euro pro Woche. Bekannte Probleme, überall in Deutschland, vor allem jetzt in Krisenzeiten. Lösungen für derartige Nöte erwarten die Bürger meist von der Politik, gerade im Superwahljahr 2009. Doch hier, im Wahlkreis Börde, erwarten offensichtlich immer weniger Wähler überhaupt irgendetwas: Bei der letzten Bundestagswahl gingen nur 68,7 Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen, so wenige wie sonst nirgendwo im Land. In Wanzleben waren es sogar nur 59,9 Prozent.
Ursachenforschung in einer Kleinstadt. Die Straßen sind sauber, fast alle Gebäude, ob öffentlich oder privat, sind liebevoll saniert. Der Ort ist sehr klein, nur vereinzelt finden sich Geschäfte für die 5500 Einwohner. Ein Bäcker, ein Metzger, ein bisschen Einzelhandel, das war's. Am Markt, jetzt zur Ferienzeit ähnlich wie die Bushaltestelle Treffpunkt für die Jugendlichen, öffnet das einzige Café, das auch draußen Sitzgelegenheiten anbietet. Im Neubaugebiet reiht sich ein Einfamilienhaus wie aus dem Katalog an das andere, die historische Burg wurde von Privatleuten aufwändig restauriert und zum gehobenen Hotel umgebaut. Wanzleben verfügt über ein eigenes Freibad, unterhält eine Stadtbibliothek, einen Jugendtreffpunkt und eine Kindertagesstätte, auch alle Schularten und sogar mehrere Fachärzte sind vertreten. Arbeit gibt es vor allem in der Verwaltung und im Dienstleistungssektor, täglich pendeln mehr Menschen nach Wanzleben, als die Stadt in Richtung Umland verlassen. Die Arbeitslosenquote liegt deutlich unter dem Landesdurchschnitt.
Kaum einer will mitmachen
Petra Hort ist Bürgermeisterin von Wanzleben - eine freundliche Frau mit einer zupackenden Art, die sich über die Wahlmüdigkeit ihrer Wanzlebener auch nur wundern kann. So oft hat sie mit ihren Mitstreitern aus dem Stadtrat schon versucht, die Bürger zum Mitmachen zu bewegen, hat auf die öffentlichen Sitzungen aufmerksam gemacht, versucht ein Jugendparlament ins Leben zu rufen - ohne Erfolg. "Dabei könnten die uns hier so unwahrscheinlich Dampf unterm Hintern machen, wir hätten ja genug zu tun". Petra Hort (Linke) sowie die Stadträte Frank Zeiske (SPD) und Ernst Isensee (CDU) nehmen ihren Gestaltungsauftrag trotzdem ernst, auch wenn er ihnen nur von gut 33 Prozent der Wanzlebener Wähler gegeben wurde - der Rest blieb bei der Kommunalwahl zu Hause. "Schrecklich, ganz schlimm ist das, wir hätten uns schon wohler gefühlt wenn dahinter 80 Prozent gestanden hätten. Jeder macht sich da so seine Gedanken" meint Zeiske.
Doch warum ist das so? Was unterscheidet Wanzleben von Steglitz-Zehlendorf, wo 83,6 Prozent der Wahlberechtigten zur Bundestagswahl ihr Kreuz machten und auch bei Kommunalwahlen die Beteiligung bei über 65 Prozent liegt? "Neben dem geringen Interesse der Bürger an Politik spielt insbesondere die mangelnde Parteibindung eine zentrale Rolle", meint Dorothée de Nève, Politikwissenschaftlerin an der Universität Wien. "81 Prozent der Nichtwähler in den Neuen Ländern können sich mit keiner Partei identifizieren, stabile Wählerbindungen konnten sich so nie aufbauen". Das sieht man auch im Wanzlebener Rathaus so. Zwar sind 20 Jahre eigentlich eine recht lange Zeit, um den Straßenwahlkampf zu etablieren, doch das Werben um die Wähler läuft oft ins Leere. "Wir haben ja Straßenwahlkampf gemacht, wissen sie, was manche Leute da sagen? 'Ich musste bis 1990 immer zur Wahl gehen, jetzt nicht mehr!' Das sind so Auffassungen, da hängen ganze Familien dran" berichtet Isensee. Doch das ist nur ein Faktor von vielen.
Bemerkt wird nur, was fehlt
Ein zweiter Faktor ist wohl am ehesten als Wahrnehmungsproblem zu beschreiben. Oder auch als Mentalitätsproblem. Obwohl viel erreicht wurde, um die Stadt trotz Abwanderung und Überalterung lebenswert und attraktiv zu erhalten, fällt den Bürgern oft nur auf, was fehlt. Der Ist-Zustand wird dagegen als selbstverständlich angenommen. Das Resultat ist Unzufriedenheit. So fehlt den Wanzlebenern der Einzelhandel, sie wünschen sich viele kleine Geschäfte zum Bummeln, Sehen und Gesehen werden - doch als es im Ort noch mehr Geschäfte gab, kauften die meisten lieber im nahen Magdeburg. Ein Laden nach dem anderen musste schließen. "Und dann kommt der Vorwurf, die Stadt macht nichts", ärgert sich Zeiske. Dass die meisten Kleinstädte von einer Stadtbücherei und einem eigenen Freibad mit erschwinglichen Preisen dagegen nur träumen können, das dringt kaum ins Bewusstsein.
Demokratie ohne Demokraten
Und das Wahrnehmungsproblem setzt sich fort. "Studien belegen, dass Bürger, die sich mit keiner Partei in Sachsen-Anhalt identifizieren können, mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland deutlich unzufriedener sind" meint Wahlforscherin de Nève. Eine Einschätzung, die so nicht sein müsste, bieten sich doch gerade auf kommunaler Ebene zahlreiche Möglichkeiten, direkte Auswirkungen von Politik zu sehen und auch selbst zu beeinflussen. Gerade in den neuen Ländern sind die Parteistrukturen noch sehr durchlässig, wer etwas bewegen will, findet schnell eine Plattform. Doch zu beobachten ist eher ein Rückzug ins Private, eine Konzentration auf Dinge, die man noch zu beherrschen glaubt. Das eigene Heim, die Familie, "da entwickelt sich so eine Wagenburg-Mentalität", meint Stadtrat Isensee. Den Bürgern scheint nicht bewusst zu sein, dass eine Demokratie nicht einfach so vor sich hin funktioniert, sondern vom Mitmachen lebt.
Zu viel schlechte Stimmung
Dieser Rückzug ist auch beim Schlendern durch das Städtchen zu beobachten. Es ist ein Wochentag, der sich wie ein Sonntag anfühlt. Auf den Straßen trifft man nur selten Passanten, auch im Zentrum, bei den wenigen verbliebenen Geschäften. Die Wanzlebener, so scheint es, sind entweder gerade in Urlaub, oder verbringen ihre Freizeit in den eigenen vier Wänden. Keine Menschenseele auf dem Sportplatz, ein einsamer Schwimmer im Freibad, das Neubaugebiet wie ausgestorben. Stille. Im Rathaus will allerdings niemand den Wählern ihren Rückzug zum Vorwurf machen. Hier sieht man es sehr kritisch, dass die Menschen immer nur gesagt bekämen, wie schlecht es in Deutschland sei, sowohl von den Medien als auch von der Politik. Zusätzlich wird sich noch öffentlich angegriffen und zerfleischt, Probleme werden breitgetreten statt gelöst - da wundert es keinen, dass die Leute sich zuallererst um die ganz eigenen Probleme kümmern, weit weg von Afghanistan, der Renten- und Steuerdiskussion. Die generelle Stimmung im Land sei einfach zu negativ, stellt Zeiske fest, und erinnert an das deutsche Sommermärchen zur Fußball-WM, als Deutschland zur Abwechslung einmal fröhlich, unbeschwert und sogar ein bisschen stolz auf sich selbst war.
Also schlicht mehr Optimismus und weniger Streit, dann klappt's auch mit der Wahlbeteiligung? So einfach ist es leider nicht. In Gemeinden, in denen es ein polarisierendes Thema im Wahlkampf gab, war die Wahlbeteiligung meist deutlich höher, hat Isensee beobachtet. In Wanzleben dagegen, wo die Bürger laut Bürgermeisterin Hort "seit vielen Jahren sehr interessant" wählen und die drei großen Parteien im Ort praktisch immer gleich setzen, gab und gibt es kaum strittige Themen. Linke, CDU und SPD ziehen alle an einem Strang, alles verläuft in ruhigen Bahnen - und die Bürger sehen offensichtlich keinen Grund, da reinzureden.
Der uninformierte Bürger
Ob sie auch der Großen Koalition nicht reinreden wollen? Möglich ist es. Petra Hort bezweifelt, dass die Wähler überhaupt die Kandidaten aus ihrem Kreis kennen, dass sie sich über die Lokalzeitung, das Internet, das Angebot der Parteien ausreichend informieren. Die Informationsflut schwappt selten von alleine zur Bevölkerung, wer etwas wissen will, der muss sich darum bemühen. Die Leute müssten aufwachen, aktiv werden, nicht nur hier, überall, ein Ruck müsste durch Deutschland gehen! Das wünschen sie sich im Rathaus.
Demokratie in Gefahr!
Bis dahin leben die Bürgermeisterin und ihre Kollegen weiter damit, dass die Mehrheit schweigt - es bleibt ihnen auch nichts anderes übrig. Sie versuchen trotzdem Politik für alle zu machen, für die Jugend, für die Alten, die Familien und auch für die Nichtwähler. Doch auf lange Sicht kann dies durchaus zum Problem werden. "Wir haben es mit einem schleichenden Qualitätsverlust der Demokratie zu tun. Das Prinzip der Repräsentation funktioniert nicht mehr, wenn bestimmte Gruppen, wie etwa junge Leute, nicht an Wahlen teilnehmen", warnt de Nève. Die unmittelbaren Verlierer sind dabei die Nichtwähler selbst: "Das politische System existiert scheinbar fröhlich weiter, mit künstlich konstruierten Mehrheiten und schwindender Legitimation". Wer nicht wählt, wird nicht direkt vertreten, und wer nicht vertreten wird, ist unzufrieden - und wählt nicht. Ein Teufelskreis.
"Ach wissen sie, in Wanzleben hat man auch früher schon die Leute schwer hinterm Ofen vorgebracht", sagt Frank Zeiske noch zum Abschied. Es gibt Dinge, mit denen muss man wohl einfach leben. Und vielleicht sind die Wanzlebener mehrheitlich doch ganz einfach zufrieden. Vielleicht mögen sie ihre Stadt, mit allen Vorzügen und Nachteilen, vielleicht vertrauen sie ihren Politikern, im Bundestag, und im Rathaus sowieso. Sie sagen es nur nicht.