Die voraussichtliche Startaufstellung der Franzosen für das erste Spiel bei der EM 2021 gegen Deutschland liest sich wie eine All-Star-Mannschaft. Auf allen Positionen ist der Weltmeister erstklassig besetzt; oft sogar mehrfach. Entsprechend gering ist hierzulande die Erwartungshaltung vor dem EM-Auftakt-Match der deutschen Mannschaft in München (21 Uhr/live im ZDF, auf MagentaTV und im stern-Liveticker). Können Manuel Neuer und Co. da wirklich mithalten?
Neuer ist optimistisch, die Stimmung im DFB-Team sei gut, "unsere Jungs" seien mit der richtigen Einstellung in der Lage, "jede Mannschaft zu schlagen", zitiert der "Kicker" den Nationaltorhüter. Den letzten Sieg über Frankreich gab's vor sieben Jahren. Es war das 1:0 im WM-Viertelfinale in Brasilien. Seither: drei Niederlagen, zwei Remis.
Es muss also alles passen, soll der Auftakt in die "Todesgruppe F", in der auch noch Europameister Portugal spielt, gelingen. Auf diese Dinge wird es für die deutsche Elf ankommen:
Die Verteidigung muss stehen
Leicht gesagt nach satten 21 Gegentoren in den letzten 13 Spielen und mit dem weltstärksten Sturm vor der Brust. Selbst beim 7:1 gegen Fußballzwerg Lettland gab's ein Gegentor. Neue Stabilität soll aber die Dreierkette um Rückkehrer Mats Hummels bringen, der von Champions-League-Sieger Antonio Rüdiger vom FC Chelsea und dem Gladbacher Matthias Ginter flankiert wird. Die drei sollten inzwischen gut aufeinander eingestellt sein. Auf den Außenbahnen werden Robin Gosens und Joshua Kimmich ihren Offensivdrang einschränken müssen, sonst findet der französische Traumsturm Mbappé - Griezmann - Benzema ganz sicher die Räume, die er braucht. Als wirkungsvollstes Mittel gilt, zu verhindern, dass die drei Goalgetter überhaupt eingesetzt werden können. Das ist nur machbar, wenn schon die Stürmer konsequent mitverteidigen. Der Nachteil: So viel defensives Engagement bremst die Offensivkraft entscheidend aus.
Kimmich muss seine Rolle annehmen
Dass Joshua Kimmich sich selbst lieber auf der Sechser-Position sieht und dort auch seine größten Stärken hat, ist allgemein bekannt. Gebraucht wird er in der DFB-Elf aber mehr in der rechten Defensive, und Coach Jogi Löw wird ihn dort voraussichtlich auch aufstellen. Ermöglicht dieser Schritt doch, neben dem wohl gesetzten Toni Kroos einen weiteren erstklassigen Mittelfeldmann zu bringen, von denen es im Gegensatz zu rechten Verteidigern im Kader einige gibt. Gündogan, Goretzka, auch Neuhaus sind da zu nennen. Die Hoffnung: Kimmich wird zu einer Art Philipp Lahm 2.0. Auch der Weltmeister von 2014 konnte nahtlos zwischen diesen Positionen wechseln und trieb zuweilen auch von rechts das Spiel an. Dass Kimmich das ebenfalls kann, steht außer Zweifel. Gegen Frankreich sind aber in erster Linie die Defensivkünste des 26-Jährigen gefragt, wird ihm doch mit Kylian Mbappé der derzeit wohl gefährlichste Stürmer der Welt direkt gegenüberstehen. Nimmt Kimmich seine Rolle an und läuft zu großer Form auf, wäre Frankreichs Sturm ein großer Schrecken genommen.
Nicht immer lieb, lieb, lieb
Und noch einmal die Defensive. Die darf, daran dürfte kaum ein Zweifel bestehen, den Franzosen keinen Zentimeter Freiraum lassen. Wie man das schafft, hat Antonio Rüdiger mit dem Selbstbewusstsein des Champion-League-Siegers umrissen: "Einfach eklig sein, nicht immer lieb, lieb, lieb, lieb oder alles spielerisch schön, schön versuchen. Gegen solche Spieler musst du auch mal ein Zeichen setzen", kündigte Innenverteidiger Antonio Rüdiger an. Und ergänzte: "Früh."
Bessere Standards
Jogi Löw hat es selber angedeutet. Bei Eck- und Freistößen muss die Mannschaft konzentrierter sein – sowohl in der Defensive wie in der Offensive. Darauf lag bei der Vorbereitung ein Schwerpunkt, ließ Löw durchblicken. Vor allem bei engen Spielen können Eck- und Freistöße entscheidend sein. Auch wenn die Franzosen zweifellos als stärker einzuschätzen sind: Die Ergebnisse zwischen den beiden Teams sind meist knapp. Gerade für die eher schwächere Mannschaft sind die Standards daher eine Chance, zum Erfolg zu kommen.
Gündogan muss mehr führen
Bei Manchester City hat Ilkay Gündogan eine herausragende Saison gespielt – auch wenn es im Champions-League-Finale nicht zum Titelgewinn reichte. Er entwickelte sogar eine so noch nicht gekannte Torgefahr. Fähigkeiten, die in der deutschen Elf noch mehr gefragt sind als in der All-Star-Truppe der Citizens. Zeigen muss Gündogan sein Können aber auch gegen ganz große Gegner; da haperte es zuletzt immer wieder. Gerade gegen Frankreich, wo das Team viel Wert auf die Defensive legen muss, wird ein Mann von Gündogans Klasse gebraucht. Wenn er es schafft, gleichermaßen Impulse nach vorne und Zeichen nach hinten zu setzen, kann er zum entscheidenden Mann des Spiels werden.
Chancen besser nutzen
Trotz schneller, talentierter Stürmer hapert es seit geraumer Zeit an der Chancenverwertung. Viel zu verschenken hat man aber bei einer EM gegen keinen Gegner. Rückkehrer Thomas Müller sollte der Abteilung Attacke Sicherheit und Freiräume verschaffen können, die vor allem Leroy Sané und Serge Gnabry aber auch nutzen müssen. Dass Gnabry im Zusammenspiel mit Bayern-Kollege Müller seine Treffsicherheit zurückgewinnt, scheint nicht unwahrscheinlich. Sané muss dringend lernen, dass geniale Dribblings, bei denen man sich aber festläuft, letztlich brotlose Kunst sind. Mit dem Abspiel im richtigen Moment setzen sie die Mitspieler aber womöglich genial ein. Gegen Frankreich bleibt aber wohl kein Raum, dies einzuüben. Deshalb wird wohl Kai Havertz auflaufen, der im Champions-League-Finale gezeigt hat, dass er auch in großen Spielen die Nerven behält und trifft. Havertz muss am besten schon gegen Frankreich zeigen, dass er auch im Nationaldress kein Lehrling mehr ist.