Fußball kann brutal sein. Eine ganze Karriere verdichtet sich mitunter auf einen einzigen Moment, auf einen einzigen Schuss, der ins Tor geht – oder eben nur an den Pfosten. Für Joachim Löw, seit 15 Jahren Trainer der deutschen Nationalmannschaft, könnte heute Abend ein solcher Moment kommen.
Das EM-Spiel gegen Portugal (18 Uhr / live in der ARD, auf MagentaTV und im stern-Ticker) wird womöglich darüber entscheiden, ob Löw den DFB als überaus geschätzter Coach, als Architekt der Weltmeistermannschaft 2014, verlassen wird. Oder ob er als gescheiterter Mann geht, dem in Brasilien vor sieben Jahren zwar Großes gelang – der danach aber keine Idee mehr hatte für die ihm anvertraute Mannschaft. Der 2018 bei der WM in Russland scheiterte, der 0:6 gegen Spanien verlor und 1:2 gegen Nordmazedonien.
Joachim Löw: Selten hat man ihn so kämpferisch erlebt
Die deutsche Nationalmannschaft muss die Partie gegen Portugal gewinnen, um die Chancen auf den Einzug ins Achtelfinale der Europameisterschaft zu wahren. Die erste Partie gegen Frankreich ging 0:1 verloren, nun ist das Portugal-Match in der Münchener Allianz Arena schon eine Art Endspiel. Für die Mannschaft, vor allem aber für Joachim Löw.
Und der weiß um die Bedeutung der Partie. Selten hat man Löw so kämpferisch reden gehört im Vorfeld eines Spiels, selten hat er angekündigt, mehr riskieren zu wollen, mit größerer Leidenschaft und Willen in die Offensive gehen zu wollen. "Wir spüren den Druck, lassen uns von ihm aber nicht erdrücken", so eigentümlich formulierte es Löw am Freitagabend, nachdem sich die Mannschaft im Münchener Hilton Hotel einquartiert hatte.
Nationalelf seit Jahrtausendwende: Nur einmal eine "Todesgruppe", aber damals ging es gut

Schon im Vorfeld des Turniers gab es teaminterne Streitigkeiten und eine starke Opposition gegen Trainer Erich Ribbeck. Nach einem 1:1 gegen Außenseiter Rumänien zum Auftakt und anschließender 0:1-Niederlage gegen England, stand Deutschland vor dem letzten Gruppenspiel gegen das bereits qualifizierte Portugal mit dem Rücken zur Wand. Auf diesem Bild ist das dritte Gegentor beim 0:3 gegen eine B-Elf der Portugiesen zu sehen. Titelverteidiger Deutschland schied als Gruppenletzter hinter den "Three Lions" aus. Rumänien scheiterte in der nächsten Runde, Portugal im Halbfinale.
Löw mag größere Umstellungen nicht
Löw wird seine Mannschaft umbauen müssen, um Portugal, den Europameister 2016, bezwingen zu können. Eigentlich mag Löw größere Operationen an Team und Taktik nicht. Er bevorzugt feine Justierungen, er ist eher Uhrmacher als ein Unfallchirurg. Aber um die deutsche Problemzone, den gegnerischen Strafraum, in den Griff zu bekommen, braucht Löw nun jedoch gröberes Besteck. Allein mit einem Mentalitätswandel, mit mehr Lust auf Risiko, ist es nicht getan.
"Es wird einige Veränderungen geben", so Löw. "Wir wollen taktisch etwas anderes ins Spiel bringen."
Womöglich wird Leroy Sané in die Startaufstellung rücken und Kai Havertz als Flügelstürmer ersetzen. Havertz, unlängst Siegtorschütze im Champions League-Finale für den FC Chelsea, wirkte im Frankreich-Spiel seltsam desorientiert und abwesend. Löw wechselte ihn erste Mitte der zweiten Hälfte aus, viel zu spät. Serge Gnabry, ebenfalls glücklos gegen Frankreich, wird wohl auf seiner Position als Mittelstürmer bleiben. Aber nur, weil es zu ihm keine Alternative gibt. Auf eine echte Nummer elf, einen Mittelstürmer, wie ihn Polen in Robert Lewandowski hat oder Belgien in Romelu Lukaku, kann Löw nicht zurückgreifen.
Gegen Portugal: "Wir müssen dynamischer, intensiver nach vorn spielen"
Eine Erkenntnis, die Löw aus dem Frankreich-Spiel gewonnen hat, lautet: "Wir müssen dynamischer, intensiver und präziser nach vorn spielen. Wir müssen dann im letzten Drittel bleiben, wir spielen den Ball noch zu viel raus."
Gesucht wird also jemand, der sich dauerhaft in die sogenannte "Box", den portugiesischen 16-Meter-Raum, traut. Thomas Müller könnte dies sein, er hat diese Rolle öfter mal beim FC Bayern gespielt, wenn Robert Lewandowski verletzt war. Auch Kai Havertz wäre dies zuzutrauen – aber ihm fehlt im Moment der Fokus.
Die K-Frage: Kimmich sieht sich im Mittelfeld
Gegen Portugal möchte Löw zwar den Druck im Angriff deutlich erhöhen, schränkte aber ein, man wolle "nicht auf Teufel komm raus das Stadion stürmen". Kontrollierte Offensive also, was dafür spricht, dass Joshua Kimmich weiterhin den rechten Außenverteidiger geben wird. Gegen Frankreich machte er dies sehr verlässlich und solide, auch wenn er diese Position nicht sehr schätzt.
Am Freitagabend vor dem Spiel gegen Portugal hielt Kimmich dann auch ein leidenschaftliches Plädoyer für eine Versetzung ins zentrale Mittelfeld. "In der Mitte kann man immer eingreifen. Da ist man jederzeit Teil des Spiels. Auf rechts ist man in manchen Situationen auftragslos und muss Geduld haben."
Leute wie Kimmich, die mit Macht nach vorn drängen und das Spiel an sich reißen wollen, kann Löw eigentlich gut gebrauchen. Er weiß ja: Im Fußball sind es einzelne Momente, die ein Spiel prägen – und manchmal über die Deutung einer ganzen Trainerkarriere entscheiden können.