Es gibt Tore, die verfolgen einen Fußballer ein ganzes Leben. WM-Finale 2014, Deutschland gegen Argentinien, Verlängerung, 113. Minute: André Schürrle flankt von links in den argentinischen Strafraum. Mario Götze, gerade erst eingewechselt, stoppt den Ball mit der Brust, zieht im Fallen mit dem linken Fuß ab, 1:0. Für die deutsche Nationalmannschaft war er das wichtigste Tor seit Jahrzehnten, denn es bedeutete den Gewinn der Weltmeisterschaft.
Aber tat das Tor auch Götze gut? Solch eine Szene wie im Stadion Maracana in Rio de Janeiro sah man von ihm nicht noch einmal. Und doch wurde Götze ständig an diesem Argentinien-Spiel gemessen – und scheiterte daran. Heute spielt Mario Götze, das einstige Wunderkind, für den PSV Eindhoven in der international zweitklassigen holländischen Liga.
Ein Wunderkind des deutschen Fußballs
Auch Kai Havertz ist so ein Wunderkind des deutschen Fußballs. Mit 17 debütierte er für Bayer Leverkusen in der ersten Liga; mit 21 Jahren und schon 118 Bundesligapartien wechselte er zum FC Chelsea nach England. Und gleich in seiner ersten Saison schoss er ein Tor, das in die Klubgeschichte eingegangen ist: Im Champions League-Finale gegen Manchester City erzielte Havertz das entscheidende 1:0 für Chelsea. Der Champions League-Triumph am 29. Mai 2021 in Porto ist seitdem untrennbar mit Havertz verbunden. "Ich werde diesen Moment, dieses Gefühl niemals vergessen", sagte damals er nach dem Sieg im Estadio do Dragao.

Doch heute, keine vier Wochen nach dem Sieg, ist das Glücksgefühl schon wieder verflogen. "Ich hatte gedacht und auch gehofft, dass es ein bisschen länger anhält", sagt Havertz. Das Tor zum 1:0, es verfolgt ihn nicht mehr. Es ist Geschichte. Und Havertz schreibt bereits an einer neuen.
Rettungssanitäter Havertz statt Dribbelkönig Sané
Im letzten EM-Vorrundenspiel der deutschen Nationalmannschaft war Havertz der beste deutsche Spieler auf dem Platz und schoss das Tor zum zwischenzeitlichen 1:1. Deutschland schaffte nach schwachem Spiel schließlich noch ein 2:2 und vermied dadurch ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Turnier. An diesem Dienstag (18 Uhr, ARD) spielt das DFB-Team im Achtelfinale gegen England.
In der Nationalmannschaft hat sich Havertz einen Stammplatz auf dem linken Flügel erkämpft. Vor dem Turnier schien dieser Platz an Leroy Sané vom FC Bayern vergeben zu sein. Sané kann an guten Tagen mit Wucht und Tempo ins Dribbling gehen und so die gegnerischen Abwehrketten aufmischen. Bei der EM gelang ihm dies bislang zu selten; Bundestrainer Joachim Löw entschied sich deshalb für den zuverlässigeren Kai Havertz.
Im deutschen Spiel ist Havertz so etwas wie ein Rettungssanitäter: Er hilft dort, wo er gerade gebraucht wird. Zuletzt war dies oftmals im Sturm, aber Havertz verfügt auch über Qualitäten in der Abwehr. Bei seinem früheren Verein Bayer Leverkusen spielte er oftmals im defensiven Mittelfeld.
Havertz' harter Corona-Rückschlag
"Kai hat viele Talente. Ich kann ihn auf mehreren Positionen bringen", sagt Löw. "Er ist schon sehr weit für sein Alter." Den Reifungsprozess deutlich beschleunigt hat der Wechsel zum FC Chelsea. Havertz, der in einem Vorort von Aachen aufwuchs, verließ das vertraute Umfeld und zog nach London. Bei Chelsea musste er sich hocharbeiten. Die Erwartungen an ihn waren gewaltig – schließlich hatte der Klub 80 Millionen Euro Ablöse für ihn bezahlt.
Havertz kam nur schwer in Tritt, zwischenzeitlich warf ihn zudem eine Corona-Infektion zurück. "Es war hart, aber ich habe es ganz gut überstanden", sagt Havertz heute über seine Erkrankung. "Es hat gefühlt vier bis fünf Wochen gedauert, bis ich wieder mit 100 Prozent auf dem Trainingsplatz stand."
Abgehärtet haben ihn auch seine Erfahrungen mit der englischen Presse. Nach einem guten Spiel hätten ihn die Zeitungen hochgejubelt und nach einer weniger starken Partie, so erzählt es Havertz, "bist Du gleich der Buhmann". Er habe gelernt, innerlich auf Distanz zu gehen. "Meine eigene Meinung und die der Trainer zählt", sagt Havertz. Alles andere berühre ihn nicht wirklich.
Diese Abgebrühtheit wird Havertz am Dienstag gegen England gut gebrauchen können. Das Wembley Stadion in London wird nämlich nahezu ausschließlich mit englischen Fans besetzt sein. 40.000 Zuschauer werden erwartet. Havertz sieht das positiv: "Es kann auch ganz cool sein, wenn alle Fans gegen dich sind." Daraus zieht jemand wie Kai Havertz eine Menge Energie. Gegen Widerstände zu kämpfen, das hat er in seinem ersten Jahr in London zur Genüge gelernt.