Murat Kurnaz Zum Verhör angeboten

Neue Erkenntnisse im Fall Murat Kurnaz: Fotos und geheime Unterlagen stützen die Vorwürfe des Mannes, der mehr als vier Jahre im Foltergefängnis Guantánamo gefangen war.

Es war bitterkalt in jener Nacht im Südosten Afghanistans. Durch Lehmbarrieren und Stacheldrahtrollen abgetrennt, lag das Areal für die Gefangenen gleich neben dem Hubschrauberlandeplatz des US-Stützpunktes in Kandahar. Das Gelände war von Scheinwerfern so grell beleuchtet, dass die Häftlinge ihre Umgebung kaum erkennen konnten. Einen von ihnen nannten die amerikanischen Bewacher "the German guy" - den Typen aus Deutschland.

"Zero-Five-Three" wurde aufgerufen. Das war die Häftlingsnummer von Murat Kurnaz aus Bremen, damals 19 Jahre alt. Nummer 053 lief barfuß zum Drahtzaun im Inneren des Lagers. Dort sah der bärtige Junge mit dem blauen Overall zwei Männer stehen: einen Schwarzhaarigen und einen Blonden, der größer war. Beide trugen Tarnuniformen, das Muster wirkte wie aus kleinen Punkten zusammengesetzt. Auf ihre Ärmel war die Deutschlandflagge genäht. Sie hatten Gewehre mit verkürzten Läufen und Laser-Zielmarkierern. Als der Gefangene sie ansah, befahlen sie schroff: "Look down!" Dann gingen sie fort.

Minuten später musste sich Kurnaz auf den Boden legen, seine Hände wurden auf dem Rücken zusammengebunden, US-Soldaten legten ihm Fußfesseln an. Zwei Amerikaner schleppten ihn ein paar Meter hinter einen Militärlastwagen. Dort warteten die beiden Bundeswehrsoldaten, nach Recherchen des stern Mitglieder der Elitetruppe KSK, Kommando Spezialkräfte.

Nun sprachen die Soldaten plötzlich Deutsch: "Weiß du, wer wir sind?", fragte der eine. Kurnaz musste sich bäuchlings auf den Boden legen. Danach schlug einer von ihnen Kurnaz' Kopf auf den Boden. "Wir sind deutsche Soldaten. Wir sind die deutsche Kraft", sagte er. Die GIs, die dabeistanden, lachten. Kurnaz hörte die Soldaten mit den Amerikanern flachsen. Er spürte Fußtritte.

Nachdem der stern in der vergangenen Woche ein Interview mit diesen Aussagen von Kurnaz veröffentlicht und mit eigenen Recherchen untermauert hatte, zogen Politiker die Glaubwürdigkeit des mehr als vier Jahre in Guantánamo Inhaftierten in Zweifel. Denn seine Aussagen könnten Regierungsmitglieder und Spitzenbeamte den Kopf kosten. Als "schlichtweg absurd" bezeichnete Siegfried Kauder (CDU), Vorsitzender des BND-Untersuchungsausschusses des Bundestages, die Vorstellung, deutsche Soldaten könnten Kurnaz misshandelt haben. Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) lud sogleich Hauptstadtkorrespondenten zum Hintergrundgespräch und bekräftigte mit sorgenvoller Miene, es gebe "keine Anhaltspunkte", dass die Vorwürfe stimmten. Und über den "Spiegel" lancierten Militärs die Meldung, wonach Ende 2001 das KSK nicht in Afghanistan, sondern "auf Masira, einer Insel vor Oman" stationiert war.

Die Meldung ist falsch und geht am Kern der Vorwürfe vorbei. Zum einen ereignete sich der Vorfall "irgendwann in den ersten beiden Januarwochen 2002", sagt Kurnaz. Der Zeitpunkt lässt sich benennen, weil sich Kurnaz daran erinnert, von den Deutschen nach Silvester misshandelt worden zu sein.

Zum anderen waren bereits ab Mitte Dezember 2001 Teile des KSK, bestehend aus einem Vorauskommando und Verbindungsoffizieren, vom Zwischenlager im Oman nach Afghanistan verlegt worden. Ein hochrangiger KSK-Offizier zum stern: "Ich war ab dem 10. Dezember 2001 in Kandahar." Weitere Recherchen sowie Dokumente, die dem stern vorliegen, belegen dies ebenfalls. Darunter befindet sich eine CD-ROM mit mehr als 500 Fotos, aufgenommen von Mitgliedern des KSK in Kandahar. Eine Reihe dieser Aufnahmen tragen das Datum des 5. und des 10. Januar 2002. Die deutschen Elitesoldaten hatten offensichtlich Zugang zum geheimen Foltergefängnis der USA. Der KSK-Offizier zum stern: "Wir haben schon gesehen, wie die Amerikaner die Gefangenen da im Lager getreten und geschlagen haben. Das war einfach schäbig." Von Misshandlungen durch eigene Kameraden erwähnt er nichts.

Dass sowohl die deutschen Militärs wie auch die Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes (BND) vor Ort über Kurnaz' Internierung informiert waren, geht zudem aus einem Geheimbericht der Bundesregierung hervor. Darin wird aus einer Depesche des BND an das Bundeskanzleramt vom 9. Januar 2002 berichtet: "Bei angeblichem Deutschen im Gefangenenlager Kandahar handele es sich um den in DEU aufgewachsenen M. K., der einen türkischen Pass hat. M. K. soll im Verlauf der Woche nach Guantánamo überstellt werden."

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Aus den Meldungen des BND wird nicht nur klar, wie frühzeitig der deutsche Auslandsnachrichtendienst und deutsche Militärs über die geplante Verlegung von Kurnaz von den Amerikanern informiert wurden. Aus den BND-Depeschen ergibt sich auch, dass den Deutschen das Angebot unterbreitet wurde, den Bremer sogar verhören zu können.

Am 23. Januar 2002, eine Woche vor dem Transfer nach Kuba, informierte nämlich der BND das Bundeskanzleramt: "M. K. befinde sich noch in AFG", heißt es im Geheimbericht. "Verbringung nach Guantánamo werde vorbereitet. Nach Mitteilung von GENIC AFOR (Deutsche nachrichtendienstliche Zelle bei NATO AFG) bestehe ein Angebot, M. K. zu sprechen und zu befragen." Bei GENIC, German National Intelligence Cell, handelt es sich um eine Einrichtung von Bundeswehr und BND. AFOR steht für den Einsatzort Afghanistan.

Als der stern dem 24-jährigen Bremer die Fotos der KSK-Soldaten vorlegte, erkannte der spontan und zweifelsfrei den Ort, an dem er von deutschen Soldaten verhört worden war: "Das ist in diesem Lager passiert." Lange bevor Kurnaz die Fotos zu sehen bekam, hatte er beim ersten Gespräch mit dem stern bereits eine Skizze des Gefangenenlagers gezeichnet und den Ort genau benannt, an dem ihn die beiden Deutschen angeblich misshandelt haben. Die Skizze deckt sich annähernd mit den später vorgelegten Fotos, auf denen der junge Türke auch Tarn-uniformen und Waffen zweifelsfrei erkannte, wie sie KSK-Soldaten Anfang 2002 im Süden Afghanistans benutzten.

Ebenso präzise schilderte Kurnaz dem stern, wie er im Frühjahr 2004 im US-Gefängnis auf Guantánamo von dem damaligen Verfassungsschutzbeamten Dr. K. vernommen wurde. Gemeinsam mit zwei Mitarbeitern des BND hatte Dr. K. den Bremer bereits im September 2002 besucht. Dabei hatte er ihm in Aussicht gestellt, freizukommen, wenn er sich bereit erkläre, als V-Mann in der Islamistenszene zu spitzeln. Dies ist bereits bekannt gewesen. Aber dass Dr. K. zwei Jahre später anscheinend einen weiteren Vorstoß unternahm, Kurnaz anzuwerben, ist erst durch das stern-Interview in der vergangenen Woche publik geworden.

Kurnaz beschrieb Dr. K., den er nicht namentlich kannte, im Gespräch mit dem stern so: 1,75 bis 1,80 groß, über 80 Kilo, Anfang 40, kurzes, blondes Haar, blaue Augen. Diese Beschreibung deckt sich mit dem Aussehen von Dr. K., wie zwei Sicherheitsbeamte, die ihn kennen, unabhängig voneinander dem stern bestätigten. Beim ersten Besuch trug Dr. K. Jeans und abgerundete Cowboystiefel. Er hatte einen gestutzten Bart, beim zweiten Mal war er glatt rasiert. Als Dr. K. die US-Aufseher bat, Kurnaz die Fesseln abzunehmen, bemerkte der Bremer das gute Englisch des Deutschen und sagte ihm dies. Dessen Antwort: "Ich habe in Amerika studiert."

Dr. K. hat nach Erscheinen des stern-Interviews eine dienstliche Erklärung abgegeben. Darin versichert er, Kurnaz kein zweites Mal in Guantánamo aufgesucht zu haben. Dies teilte das Bundeskanzleramt dem Parlamentarischen Kontrollgremium (PKG) mit, berichtete die "Süddeutsche Zeitung" und kolportierte Spekulationen aus "Regierungskreisen", der Kurnaz-Vernehmer von 2004 könne jener Deutsch sprechende Amerikaner sein, der angeblich bereits 2002 dabei war. In einem geheimen Regierungsbericht vom Januar 2006 wird beschrieben, dass Dr. K. und die beiden BND-Beamten bei ihrer Befragung von einem US-Geheimdienst-mann namens Steve H. begleitet wurden, der sich aber nicht als Amerikaner zu erkennen gegeben habe.

Kurnaz kann sich nur an drei Besucher erinnern. Und er schließt aus, dass einer davon Amerikaner war: "Ich wurde oft von Amerikanern verhört, die perfekt Deutsch sprachen. Und trotzdem hörte man den Akzent heraus. Von den dreien hatte keiner einen Akzent."

Warum sollte Kurnaz in dieser Sache auch lügen? Für ihn ist es nicht entscheidend, wie oft ihn deutsche Beamte vernommen haben. Während der Gespräche mit dem stern war der Bremer vielmehr darüber erschüttert zu erfahren, dass BND und Verfassungsschutz bereits im September 2002 zu der Überzeugung gekommen waren, er sei unschuldig. Bei Murat Kurnaz deute "nichts" auf "Kontakte zu Taliban- oder al-Qaeda-Strukturen" hin, heißt es in einem geheimen Regierungsbericht. Und: Die "US-Seite hat sich dieser Bewertung angeschlossen". Sie wollte Kurnaz bis November 2002 freilassen und den Deutschen übergeben.

Daraus wurde nichts. Denn am 29. Oktober 2002 trafen sich im Kanzleramt in Berlin die Chefs der deutschen Sicherheitsbehörden unter dem Vorsitz des heutigen Außenministers Frank-Walter Steinmeier, um über den Fall Kurnaz zu reden. Auch wenn dessen Unschuld feststand, auch wenn sie die Folterpraktiken in Guantánamo kannten, hatte die Runde kein Interesse an dessen Rückkehr nach Bremen. August Hanning, damals BND-Chef, heute Staatssekretär im Bundesinnenministerium, plädierte sogar dafür, Kurnaz mit einer "Einreisesperre für Deutschland" zu belegen, falls ihn die Amerikaner trotzdem laufen ließen.

"Was sind das nur für Leute, die das entschieden haben?", fragt Kurnaz. "Obwohl die deutsche Regierung wusste, dass ich nie gegen Gesetze verstoßen hatte, obwohl sie keine Beweise gegen mich hatten, obwohl sie wussten, dass ich gefoltert wurde, haben die mich noch mehr als drei Jahre in Guantánamo sitzen lassen."

Die Teilnehmer des Treffens im Kanzleramt waren zu keiner Stellungnahme bereit. Innenstaatssekretär Hanning ließ lediglich mitteilen: "Nach derzeitigem Sachstand ist nicht auszuschließen, dass der gesamte Sachverhalt in den Auftrag des Untersuchungssausschusses aufgenommen wird; dem sollte nicht vorgegriffen werden."

Uli Rauss, Oliver Schröm
Mitarbeit: Stefan Braun, Hans-Martin Tillack

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