In der Nacht zum 16. Mai kam es zu einer Raketenschlacht im Luftraum über Kiew. Beide Seiten berichten über erstaunliche Erfolge. Kiew will gleich sechs Kinshal-Raketen abgefangen haben, teilweise ist sogar von neun die Rede. Dazu sollen weitere russische Missiles abgefangen worden sein. Ein hundertprozentiger Erfolg der Luftabwehr – Moskau sei kein Treffer gelungen. Russland behauptet dagegen, ein komplettes Patriot-System vernichtet zu haben.
Beide Meldungen stimmen – wie zu erwarten – nicht. Kiew wurde sofort beim Schwindeln erwischt. Mehrere Webcams zeigen einen Einschlag und eine Explosion am Boden. Zuvor konnte ein Massenstart von Raketen gezeigt werden. Am nächsten Tag wurde bestätigt, dass ein Patriot-System der Ukraine – von insgesamt zweien – "beschädigt" worden ist. Ein Patriot-System ist mobil und besteht aus mehreren Bestandteilen: den Startern, die die Abwehrraketen abfeuern, dem Radar und einem Kommandosystem. Die einzelnen Module werden, wenn möglich, nicht gebündelt an einem Fleck aufgestellt, sondern verteilt – so dass ein Treffer einzelne Module zerstören kann, aber nicht das ganze System. Ob und wie die ukrainischen Soldaten ihre Batterie verteilen konnten, ist unklar. Da das System innerhalb der bebauten Stadt aufgestellt wurde, ist die Auswahl von geeigneten Standorten weit geringer als auf freier Ebene. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die ganze Batterie vernichtet wurde – wie die russische Seite suggeriert. Das russische Verteidigungsministerium meldet sogar den Verlust von fünf Patriot-Batterien. Dass Kiew nur über zwei verfügt, ficht den Kreml nicht an. US-Beamte sagten, dass die Radarkomponente nicht beschädigt worden sei. Sie nehmen an, dass die Patriot für Reparaturen nicht einmal vom Einsatzort entfernt werden muss. Es soll also nur kleinere Schäden gegeben haben. Andere Berichte besagen, es seien nur Trümmerteile von einem Dach auf die Module der Patriot gefallen. Bestätigen lassen sich die Angaben beider Seiten nicht.
Attacke auf die Abwehrbatterie
Bei dem Angriff auf Kiew hat es sich um eine gezielte, mehrstufige Attacke gegen das Patriot-System gehandelt. Vermutlich sollten erste Flugkörper dazu führen, dass das Radar der Anlage aktiviert wird, um den Standort anzupeilen. Danach könnte man versucht haben, dieses Radar zu stören und dann einen eigenen Treffer zu landen. Kurz vor dem Einschlag hat die Batterie 30 Raketen in rascher Folge gestartet, sie konnten den Treffer nicht verhindern. Russische Kommentatoren unterstellten eine Panikreaktion bei der Mannschaft. Das war sicher nicht der Fall, eher könnte sich eher um eine kalkulierte Reaktion gehandelt haben. Als die Bedienung der Batterie erkannte, dass sie angegriffen wird und keine Möglichkeiten bestand, den Einschlag abzuwehren, wurden alle Raketen gestartet, um die Folgeexplosionen bei einem russischen Treffer zu reduzieren, und so die Zivilisten und Gebäude in der Umgebung zu schützen. Ist es so geschehen, ist es eine heroische Tat der Bediener. Ob mit der Salve tatsächlich sechs oder mehr Kinshal-Raketen abgeschossen wurden, wie Kiew nahelegt, bleibt zweifelhaft, solange keine Trümmerteile gezeigt werden.
Kinschal kann abgefangen werden
Schon zuvor tauchte die Frage auf, ob die Patriot in der Lage wäre, eine Hyperschallwaffe vom Typ Kinshal abzufangen (Kh-47 Kinschal – darum konnte die Ukraine eine von Putins "unbesiegbaren" Hyperschallraketen abschießen) Die Ukraine behauptet, dass es gelungen sei. Als Beweis wurde später allerdings ein wenig überzeugendes Sammelsurium an Trümmern präsentiert. Grundsätzlich ist es möglich. Die Kinshal – zu Deutsch Dolch – ist eine Variante der ballistischen Iskander-Rakete, die von einem Flugzeug aus gestartet wird. Diese Waffe erreicht Geschwindigkeiten von über fünffacher Schallgeschwindigkeit. Sie verfügt aber nicht über die hohe Manövrierfähigkeit die "echte" Hyperschallwaffen mitbringen. Dazu soll der Gefechtskopf die Geschwindigkeit in der Endphase vor dem Einschlag reduzieren. Das Patriot-System wurde eigens (weiter-) entwickelt, um derartige ballistischen Raketen abzuwehren. Die Frage kann man mit einem klaren "Ja" beantworten (MIM-104 Patriot – mit diesem Luftabwehrsystem kann Kiew Russlands Luftoffensive zurückschlagen).
Hohe Geschwindigkeit reduziert die Abwehrzone
Dennoch sind die Kinshal-Raketen nicht weniger gefährlich. Wieso? Bei sich sehr schnell bewegenden Objekten schrumpft der Einsatzbereich der Luftabwehr. Meistens wird die "Schutzglocke" der Luftverteidigung als Kreis dargestellt. Das ist nicht korrekt. Tatsächlich handelt es sich immer um eine Ellipse. Reichweite und Trefferwahrscheinlichkeit steigen, wenn der Angreifer sich auf das Zentrum, den Standort der Batterie, zu bewegt. Das ist die lange Seite der Abwehrellipse. Reichweite und Trefferwahrscheinlichkeit sinken, wenn der Kurs an der Batterie vorbei geht. Hier flacht der Kreis ab. Wesentliche Faktoren bei dieser Verformung des idealen Kreises zu einer Linse sind Kurs und Geschwindigkeit des Ziels. Je schneller, um so flacher wird die Ellipse. Das heißt: Auch wenn die Patriot die Kinshal abfangen kann, schrumpft der geschützte Raum zusammen. Um große Gebiete der Ukraine schützen zu können, müsste man sehr viele Abwehrbatterien haben. Dieser Faktor macht Hyperschallwaffen so interessant. Es ist nicht unmöglich, sie abzuwehren, es wird nur sehr viel teurer, eine Verteidigung aufzubauen.
Unklarer Verlauf des Angriffs
Nur in einem Fall wirkt sich der beschriebene Effekt nicht aus: Dann, wenn sich die Batterie sehr nahe am Einschlagsziel befindet oder wenn sie gar selbst das Ziel ist, dann befindet sich die Batterie immer direkt auf der Flugbahn wie in Kiew. Kurzum. Die Fähigkeiten der Patriot zum Eigenschutz oder zum Objektschutz sind hoch, ihre Fähigkeit, den Luftraum großer Gebiete zu schützen, deutlich reduziert.
Diese Folgerung ergibt sich allein aus dem Faktor-Geschwindigkeit. Beim Angriff in der Nacht zum 16. muss "Hyperschall" keine entscheidende Rolle gespielt haben. Sollte es sich wirklich um einen Alarmstart von 30 Abwehrraketen gehandelt haben, wäre das ein Zeichen, dass die Patriot-Batterie bereits vor dem Treffer hilflos war. Den Russen wäre es dann gelungen, das Radar oder die sonstige Elektronik der Patriot zu stören.
Es gibt keine "Wunderwaffen"
Aber auch dieses Ergebnis würde nichts am Wert der Patriot und vergleichbarer Systeme für die Ukraine ändern. Das Publikum liebt die Vorstellung von "Wunderwaffen", gegen die der Gegner gar nichts ausrichten kann. So etwas gibt es in Kriegen nicht. Trotz der deutlich verbesserten Luftabwehr können die Russen jeden Abend Videos von Einschlägen in der Ukraine zeigen. Die Luftverteidigung hat Lücken und ist nie zu 100 Prozent erfolgreich. Auch überlegene Waffen werden im Krieg dezimiert. Wenn all die modernen Waffen aus dem Westen in den Einsatz gelangen, wird es zwangsläufig zu Verlusten kommen – auch beim Leopard 2.
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