Flucht
Deutlich weniger Menschen als in den vergangenen Jahren schaffen es zurzeit bis nach Europa.
Knapp 6000 kamen im August über die drei Mittelmeer-Routen, also über Griechenland, Italien und Spanien, in die EU. Vor ein, zwei Jahren waren es monatlich dreimal so viele. Dass weniger kommen, hat Gründe. Menschenrechtler sagen, die Türkei und Libyen kontrollierten scharf, auch europäische Grenzer seien wenig zimperlich. Laut der „New York Times“ hat die griechische Küstenwache mehr als 1000 Geflüchtete in Schlauchbooten auf hoher See ausgesetzt.
Die heutige Lage ist weit entfernt von den dramatischen Jahren 2015 und 2016. Laut der Grenzagentur Frontex kamen damals 1,82 Millionen beziehungsweise 511.000 Menschen ohne gültige Papiere nach Europa, vor allem aus Syrien und Afghanistan. 2020 kamen bis Ende August über die drei Hauptrouten 42.000 Menschen, neben Syrern und Türken auch Tunesier. Corona hat in ihrem Land die Tourismusbranche zerstört.
Obwohl weniger Geflüchtete unterwegs sind, hat sich die Situation an den EU-Außengrenzen keineswegs gebessert, wie nicht nur der Brand in Moria zeigt. Die Lager auf den griechischen Inseln sind völlig überfüllt. Ausgelegt sind sie für 10.000 Menschen; Ende Februar lebten dort viermal so viele: 42.414. Die griechische Regierung schickte seither Flüchtlinge aufs Festland. Sieben EU-Staaten, darunter auch Deutschland, nehmen über 500 Minderjährige und kranke Kinder auf. Doch in den Lagern hausen weiter 27.000 Menschen.
Wer als Flüchtling nicht Lesbos oder Samos ansteuert, sondern übers zentrale Mittelmeer nach Italien und Malta will, hat es ebenfalls schwer. Schiffe mit Geflüchteten finden keinen Hafen, wochenlang warten die Menschen, bis sie an Land dürfen.
Todesopfer
Weniger Flüchtlinge heißt nicht mehr Sicherheit auf dem Meer. Im Gegenteil. 2015 ertrank nach den vorliegenden Zahlen nur jeder 269., Mitte 2019 war es jeder 47. Denn es sind weniger Seenotretter unterwegs. Die italienische Mission „Mare Nostrum“, die 2014 über 140.000 Geflüchtete auf See barg, gibt es nicht mehr. Die nachfolgenden Missionen der EU kümmern sich kaum noch um Seenotrettungen. Die neue EU-Mittelmeer-Mission „Irini“ soll vor allem den Waffenschmuggel nach Libyen eindämmen. Fast alle privaten Rettungsschiffe liegen in italienischen Häfen fest, vor allem die „Sea-Watch 4“ kreuzt im Mittelmeer. 20.000 Menschen sind seit 2014 auf der Flucht über das Mittelmeer gestorben, allein im vergangenen Jahr waren es laut der UN- Organisation für Migration (IOM) 1885 Menschen.
Asylverfahren
Wenn weniger Geflüchtete kommen, beantragen auch weniger Menschen Asyl. Gab es 2016 in Deutschland gut 745.000 Asylbewerber, waren es vergangenes Jahr 166.000, Tendenz sinkend. Bis August wurden gut 74.400 Anträge gestellt, mehr als ein Drittel weniger als ein Jahr zuvor, die meisten von Syrern, Irakern, Afghanen und Türken. Entscheidend ist der Status. Fällt ein Flüchtling unter die Genfer Konvention, etwa wegen politischer Verfolgung in der Heimat, hat er mehr Rechte als ein „Bürgerkriegsflüchtling“, der nur „subsidiären“ Schutz erhält. Dann kann er nicht so leicht Eltern oder Kinder nachholen. Die meisten Verfahren gehen zugunsten der Asylbewerber aus. 57 Prozent waren es 2019, 2016 sogar 70 Prozent. Etwa 1,8 Millionen Schutzsuchende lebten vergangenes Jahr in Deutschland, 800.000 mehr als 2015 – 2,2 Prozent der Bevölkerung.
Laut UN-Flüchtlingshilfswerk nimmt Deutschland nach der Türkei weltweit die meisten Flüchtlinge auf. Die Flüchtlinge werden abhängig von deren Bevölkerungszahl und Wirtschaftsleistung auf die Bundesländer verteilt. Da der Ausländeranteil im Westen seit Langem höher ist als im Osten, fällt der Zuwachs dort mehr auf. In Landkreis Sonneberg, im Süden von Thüringen, lebten laut „FAZ“ 2012 605 Ausländer (Schutzsuchende und EU- Ausländer), 2019 waren es mehr als 3000 – bei 58.000 Einwohnern. Ein Plus von 406 Prozent. 2019 wurden 22.100 Menschen aus Deutschland abgeschoben, 6,4 Prozent weniger als im Vorjahr. Aktuell sind 272.000 Ausländer ausreisepflichtig. 80 Prozent von ihnen werden aber aus unterschiedlichen Gründen geduldet.
Integration
2015 und 2016 sorgten sich viele, die Flüchtlinge würden keine Jobs bekommen und von staatlicher Stütze leben. Doch die Befürchtung hat sich kaum bestätigt. 1,6 Millionen Asylsuchende kamen zwischen 2015 und 2019 ins Land. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung erwartet, dass bis Ende des Jahres knapp die Hälfte einen Job hat; viele sind aber als ungelernte Hilfskräfte tätig. Weggenommen haben sie den Deutschen keine Jobs, seit 2015 ist die Arbeitslosigkeit kontinuierlich gesunken. Erst Corona änderte den Trend.
Die Zuwanderung hat auch den Sozialkassen genutzt. Laut der Techniker Krankenkasse entlastete sie die gesetzliche Krankenversicherung seit 2012 um acht Milliarden Euro. Grund: Die Zuwanderer sind im Durchschnitt jünger, gesünder und beanspruchen weniger Leistungen als die deutschen Versicherten. Seit 2016 gab der Bund insgesamt 87,3 Milliarden Euro für die Flüchtlinge aus, etwa 6,5 Prozent der Bundesausgaben. Aber: Knapp eine Million Flüchtlinge lebt von Sozialhilfe. Erreichten 2015 in den staatlich geförderten Sprachkursen 70 Prozent „ausreichende Deutschkenntnisse“, gelang das 2019 nur der Hälfte.
Kriminalität
2015 gab es viel Hilfe, von „Willkommenskultur“ war die Rede.
Doch spätestens seit der Kölner Silvesternacht 2015 begann die Stimmung zu kippen. Es folgten aufsehenerregende Taten wie der Mord eines afghanischen Flüchtlings an einer Freiburger Studentin oder das Attentat auf dem Berliner Breitscheidplatz. Heute ist das Bild gemischt. Trotz Zuwanderung ist die Kriminalität in Deutschland rückläufig. Aber: Unter den Tatverdächtigen sind überproportional viele Ausländer. Von Verstößen gegen das Ausländerrecht abgesehen sind ein knapp Drittel Ausländer, unter ihnen acht Prozent Flüchtlinge – bei gut zwei Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung.
Die Gründe sind vielfältig. Zahlreiche Geflüchtete sind jung und männlich. Junge deutsche Männer werden auch häufiger kriminell als alte Frauen. Außerdem werden Ausländer öfter angezeigt als Deutsche. Auch die Lebensumstände fördern Kriminalität, wobei oft andere Ausländer darunter leiden. Aber: Je länger die Menschen im Land sind, desto seltener werden sie kriminell. Laut Bundeskriminalamt sank binnen des vergangenen Jahres die Zahl der von Flüchtlingen begangenen Diebstähle um 18 Prozent, die der Tötungsdelikte um 17 Prozent.