Sie kamen schon um 6 Uhr früh ins Dorf Lazarevo bei Zrenjanin. Auch der Bürgermeister war überrascht, als der Geheimdienst und die Spezialpolizei mit ihren Fahrzeugen auftauchten. Am unvorbereitesten aber dürfte die Zielperson gewesen sein, die hier unter dem Namen Milorad Komadic auf einem unscheinbaren Bauernhof wohnte und unter seinem richtigen Namen der Welt als Kriegverbrecher und Völkermörder, als "Schlächter vom Balkan" bekannt ist: Ratko Mladic.
Wenige Stunden später, gegen 9 Uhr, schlugen die Sondereinheiten zu und nahmen den Ex-General gefangen - ohne große Zwischenfälle, wie es heißt. Einer der meistgesuchten Verbrecher der Welt war bei Verwandten untergekommen. Mit seiner Festnahme nach fast 16 Jahren auf der Flucht hatte kaum noch jemand gerechnet, seine Familie wollte ihn sogar schon für tot erklären. Die Nachricht seiner Verhaftung jedenfalls wurde weltweit, wenn nicht mit Begeisterung, dann doch zumindest mit Erleichterung aufgenommen.
"Das war kein Kriegsverbrechen, sondern meine Pflicht"
Mladic, 69 Jahre alt, ist ein Mann, der aus Überzeugung gehandelt hatte und damit die Welt schockierte. Er trägt die kriminelle Verantwortung für das Massaker von Srebrenica, das größte zivilisatorische Trauma der europäischen Nachkriegsgeschichte. Seine eigene Tochter Ana soll sich als 23-Jährige aus Entsetzen über das Grauen des Krieges selbst getötet haben. Und doch zeigte er niemals Reue: "Ich verteidige mein Volk", sagte Ratko Mladic vor einem guten Jahrzehnt in einem Interview, "das ist kein Kriegsverbrechen, sondern meine Pflicht."
Der mutmaßliche Massenmörder von Bosnien-Herzegowina hat seine Ideologie lange ungestraft vertreten, dann tauchte er in den Untergrund ab. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag drang lange auf seine Auslieferung, und nach der Verhaftung des ehemaligen bosnischen Serbenpräsidenten Radovan Karadzic im Juli 2008 war Mladic der prominenteste kriminelle Flüchtige aus dem Krieg in Bosnien-Herzegowina. Seine Festnahme galt auch als Bedingung für die endgültige politische Annäherung zwischen Serbien und der Europäischen Union. Auch Ehefrau Bozana soll vor längerer Zeit schon ihren Gatten aufgefordert haben, sich zu stellen.
Srebrenica steht als Chiffre für das Grauen
Der Ortsname Srebrenica steht als Chiffre für das Grauen nach dem Auseinanderfallen des Vielvölkerstaates Jugoslawien in den 90er Jahren - das Massaker dort stellt den humanitären Tiefpunkt dieser eskalierten weltpolitischen Krise dar. Als Bosnien-Herzegowina im April 1992 international als eigenständiger Staat anerkannt wurde, entbrannte - nach kriegerischen Auseinandersetzungen in Slowenien und Kroatien - ein Bürgerkrieg zwischen Serben, Muslimen und Kroaten. Ratko Mladic, vorher General der jugoslawischen Armee, avancierte zum Kommandeur der bosnisch-serbischen Truppen. Dank militärischer Überlegenheit - schließlich gingen seine Truppen aus der jugoslawischen Staatsarmee hervor - nahmen Mladics Truppen schnell 70 Prozent des Landes ein.
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Trauriger Höhepunkt Srebrenica
Im Mai 1992 definierte Radovan Karadzic, der politische Führer der bosnischen Serben, sechs "strategische Ziele" für seine Volksgruppe - eine Art Plan für die militärischen Aggressionen und ethnischen Säuberungen der folgenden Jahre. Ratko Mladic verfolgte diese Ziele mittels der "operativen Direktive 04" vom 19. November 1992 für das bosnisch-serbische Militär. Die serbischen Truppen besetzten ganze Landstriche und vertrieben alle nicht-serbischen Bewohner. Die Serben unter Mladics Kommando deportierten Muslime und Kroaten und richteten Gefangenenlager ein, in denen sie ihre Opfer vergewaltigen, folterten, verschiedentlich misshandelten und unmenschlichen Bedingungen aussetzten.
Der ehemalige Bosnien-Beauftragte der Bundesregierung, Hans Koschnick, blickt in seinem Blog zurück: "Mit Srebrenica erreicht diese 'ethnische Säuberung' ihren schrecklichen Höhepunkt." Die Stadt stand ebenso wie Zepa unter der Kontrolle der offiziellen bosnischen Regierung, Zehntausende Flüchtlinge hatten dort vor Mladics Schergen Zuflucht gesucht.
Muslimische Enklaven sollten beseitigt werden
Der UN-Sicherheitsrat beschloss am 16.April 1993 per Resolution 819, dass alle Konfliktparteien Bosnien-Herzegowinas die Städte Srebrenica und Zepa, aber auch Sarajewo und Gorazde als "sichere Zonen" zu betrachten hätten, die nicht angegriffen werden dürften. Ein Beschluss, welcher dem Überlegenheitsanspruch der Serben widersprach. "Danach fingen die bosnisch-serbischen Kräfte unter Kommando von General Ratko Mladic an, besondere Aufmerksamkeit auf die Einnahme der strategisch gelegenen Enklave Srebrenica sowie auf die Vertreibung der bosnisch-muslimischen Bevölkerung zu legen", fasste die ehemalige Chefanklägerin beim UN-Tribunal Carla del Ponte die Reaktion in ihrer Anklage gegen Mladic zusammen. Am 8. März 1995 schließlich gab Präsident Karadzic die "operative Direktive 07" heraus, die seinen Einheiten das Ziel vorschrieb, die muslimischen Enklaven in Srebrenica und Zepa zu beseitigen.
Ende Mai 1995 nahm Mladics Truppe etwa 200 UN-Beobachter und Friedenssoldaten als Geiseln, sie wurden als "menschliche Schutzschilde" gegen Nato-Einsätze genutzt. Am 2. Juli starteten Mladics Verbände den Angriff auf Srebrenica, neun Tage später fielen sie ein. Die anwesenden holländischen UN-Friedenstruppen setzten nichts entgegen - ein Trauma für die internationale Gemeinschaft, die bereits ein Jahr zuvor in Ruanda dem Genozid weitgehend machtlos zugesehen hatte.
Opfer aus Massengräbern geholt und erneut verscharrt
Mladic führte seine Truppen persönlich in die geschlagene Stadt. Muslimische Frauen und Kinder wurden mit Bussen in andere Gebiete deportiert. Alle muslimischen Männer zwischen 12 und 77 Jahren wurden aussortiert, um sie "Verhören wegen Verdachts auf Kriegsverbrechen" zu unterziehen, wie es damals hieß. Die serbischen Kräfte massakrierten in der Woche nach Einnahme Srebrenicas etwa 8000 Menschen, und Augenzeugen erinnerten sich vor Gericht in Den Haag, dass der General persönlich an dem Gemetzel teilnahm. Auch Videos, auf denen er zu sehen war, sorgten für Empörung. Die Serben versuchten, ihre Taten vor der Welt zu verschleiern, indem sie die Opfer aus Massengräbern holten und sie an versteckten Orten wieder verscharrten.
Die Familien der Massakeropfer erfahren mit der Verhaftung zumindest ein wenig Genugtuung: "Nach 16 Jahren des Wartens ist dies eine Erleichterung für uns", sagte die Präsidentin der Opfer-Vereinigung "Frauen von Srebrenica", Hajra Catic. Für die Angehörigen sei die Festnahme "wirklich sehr wichtig", so Catic, deren Mann und Sohn in Srebrenica ums Leben kamen.
Selbstverständnis eines großen Feldherren
Srebrenica ist nicht der einzige Ort, an dem Mladic mit seinen Helfern wütete. Die Anklage gegen ihn umfasst 15 Punkte. Das Haager Tribunal soll, wenn es nach der Anklage geht, eine ganze Reihe von Taten ahnden: Völkermord, Mittäterschaft am Völkermord, Verfolgung, Auslöschung und Mord, Deportation, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ungesetzlicher Terrorisierung von Zivilisten, Mord, Grausamkeit, Angriffe auf Zivilisten sowie Geiselnahme. Schon seit Mai 1992 hatten seine Truppen mit Granaten und Scharfschützen die bosnische Hauptstadt Sarajewo terrorisiert. Als Folge der vier Jahre andauernden Belagerung des einstigen Olympia-Ortes gab es mehr als 10.000 Tote und Verletzte.
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Unter ärmlichen Bedingungen aufgewachsen
Die Anklagevertreter am Internationalen Gerichtshof sehen Mladic als einen "individuell kriminell Verantwortlichen" für die Taten. Der General selbst hatte stets gezeigt, dass er sich als großen Feldherrn sah. Seine Vorbilder sind Hannibal, Alexander der Große und der preußische Kriegstheoretiker Clausewitz. Der 1,70 Meter kurze Mladic ist ein Emporkömmling aus einfachen Verhältnissen. Zur Welt kam er im März 1942 im bosnischen Bergdorf Treskavica. Seine Eltern hatten auf Seiten Titos gegen die Nazi-Besatzung gekämpft, sein Vater war 1945 gefallen. So wuchs Mladic im Örtchen Bozinovici unter ärmlichen Bedingungen bei der Mutter auf.
Bereits früh schlug er die militärische Laufbahn ein, mit 15 Jahren absolvierte er seine erste militärische Ausbildung in Zemun bei Belgrad. Er machte bei den jugoslawischen Truppen Karriere, vor dem Wechsel in die formal nun bosnisch-serbische Truppe fungierte er als Generalleutnant und Stabschef der jugoslawischen Armee und hatte sich unter seinen Gefolgsleuten großen Respekt erworben, weil er während der militärischen Auseinandersetzung mit dem inzwischen unabhängigen Kroatien mehrfach persönlich heikle Einsätze angeführt haben soll.
Noch 2000 besuchte er offen ein Fußballspiel
Nach dem Ende des Bosnien-Kriegs fand Mladic in der serbischen Hauptstadt Belgrad eine sichere Heimstatt und genoss den persönlichen Schutz des ebenfalls als Kriegsverbrecher angeklagten Präsidenten Slobodan Milosevic. Zunächst lebte Mladic offen in der Stadt, besuchte - abgeschirmt von Personenschützern - Fußball-Spiele, wie im April 2000 das Länderspiel Jugoslawien-China. Seit der Festnahme Milosevics 2001 versteckte sich der Ex-General allerdings, weil der internationale Druck auf Belgrad kontinuierlich stieg. Die US-Regierung hatte auf seinen Kopf eine Belohnung von fünf Millionen Dollar ausgelobt.
Es gab seit August 2003 mehrere Zugriffe, doch der Kriegsverbrecher konnte sich stets - wohl auch dank der Hilfe einflussreicher Freunde - rechtzeitig absetzen. Im Sommer 2009 veröffentlichte ein bosnischer TV-Sender ein Video, das Mladic tanzend auf der Hochzeit seines Sohnes zeigt. Serbische Zeitungen publizierten wiederholt Listen von Belgrader Wohnungen, in denen sich Mladic in den vergangenen Jahren versteckt haben soll. Je mehr über seine möglichen Aufenthaltsorte bekannt wurde, desto mehr Gerüchte gab es, dass die serbische Regierung wusste, wo sich Mladic versteckt hielt - und trotzdem nichts tat.
"Serbien hat eine ganz klare europäische Perspektive"
Doch Serbien will in die EU und die vollständige Kooperation des Landes mit dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag galt bislang als wichtigste Voraussetzung für eine weitere Annäherung des Landes mit der Union. Jetzt, nach der Festnahme, ist dieses Hindernis aus dem Weg geräumt. Der deutsche Außenminister Guido Westerwelle sagte nach dem Coup gegen Mladic: "Die Bundesregierung sieht für Serbien eine ganz klare europäische Perspektive." Was freilich noch keine Zusage für den Beitritt ist.
Der Kriegsverbrecher selbst wurde wenige Stunden nach seiner Verhaftung nach Scheveningen ausgeflogen, einem Vorort von Den Haag. Dort, an der Nordsee, sitzen auch Männer wie Charles Taylor ein, der Ex-Präsident Liberias und "Herr der Blutdiamanten". Und natürlich Radovan Karadzic - Mladics Kriegsherr und Verbündeter.