Eigentlich hätte man schon im vergangenen Sommer ahnen können, dass an dieser Erzählung irgendwas faul ist. Da veröffentlichte Andrew Cuomo nämlich allen Ernstes ein Buch mit dem Titel "Eine amerikanische Krise – Lektionen in (politischer) Führung von der Covid-19-Krise", in dem er seine Corona-Politik wie im Rückblick analysierte. Beziehungsweise selbst abfeierte.
Wohlgemerkt war damals keineswegs die Zeit, um Bilanz zu ziehen und Lektionen zu lernen, schließlich war die Krise noch in vollem Gange. Aber das spielte für Cuomo keine Rolle, und erst recht nicht für seine Verehrer, die sich "Cuomosexuals" nannten und nicht mit Bewunderung sparten für den ersten Mann im Staate NY: Mit beeindruckendem Erfolg hatte der 63-Jährige sich damals als umsichtiger Gegenentwurf zum überforderten und erratischen US-Präsidenten Donald Trump inszeniert.

Andrew Cuomo: In der Not ein Mann der Tugend?
Mit der Nummer schaffte Cuomo es binnen kürzester Zeit vom täglichen Auftritt im Hauptabendprogramm des amerikanischen Fernsehens zur internationalen Berühmtheit – und neben Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom zum gefühlt einzigen Politiker der Vereinigten Staaten, der die Krise ernst nahm.
Cuomo versprach, seine Politik strikt nach wissenschaftlichen Notwendigkeiten auszurichten. Sein Krisenmanagement brachte ihm viel Lob ein, unter anderem von US-Top-Immunologe Anthony Fauci, und sorgte dafür, die Lage in New York nach einer Explosion der Corona-Fälle im Frühjahr 2020 einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen. In der Not war Cuomo plötzlich Mann der Tugend.
Nun sollte der grundsätzlichen Begeisterungsfähigkeit der Amerikaner für ihre Vorbilder und Anführer stets eine gewisse Skepsis entgegengebracht werden. Immerhin reden wir hier von New York, wo es einst sogar ein Rudy Giuliani bis zum Bürgermeister schaffte, der nach 9/11 außerdem ähnlichen Anpacker-Ruhm anhäufte wie Cuomo knapp zwei Jahrzehnte später. Und natürlich reden wir auch von dem Land, das seinen Reality-TV-Star als Präsidenten gerade erst abgewählt hat.
Die Grenzen zwischen Politik und Entertainment verschwimmen in den USA. Trotzdem dürfte der Absturz, der Cuomo seit dem vergangenen Sommer ereilte, ziemlich einzigartig sein. Einen "Cuomocrush" hat heute kaum noch ein New Yorker. Der König des Big Apple steht plötzlich ohne Kleider da.
Wie konnte das passieren?
Hintergrund ist, dass die Zahl der Todesfälle in den Heimen zuletzt stark nach oben korrigiert wurde, von 8500 auf mehr als 15.000. Mehrere Medien – darunter die "New York Times" – berichten, dass Abgeordnete des Staates eine Verschleierung der Ausmaße durch Cuomo vermuten. Als Konsequenz planten sie, seine Machtbefugnisse zum direkten Erlassen von Notfallmaßnahmen einschränken zu wollen. Ebenfalls wurde bekannt, dass die Bundespolizei FBI und Ermittler im Staat New York das Vorgehen der Regierung bezüglich Pflegeheimen untersuchten.
Das alles geht zurück auf eine offenbar folgenschwere Entscheidung des Gouverneurs, der Ende März 2020 verfügt hatte, dass mehr als 6000 ältere Covid-Patienten aus der stationären Behandlung entlassen und zurück in die Altersheime verlegt werden sollten. Bald darauf waren nach offiziellen Angaben 8500 Menschen in New Yorker Altenheimen gestorben. Cuomo selbst schob die Schuld dafür in einem Bericht auf Pflegekräfte, die das Virus in die Heime gebracht hätten – andere Erklärungen tat er bisweilen sogar als Verschwörungserzählungen aus Trumps Lager ab.
Jetzt, da die viel höheren Todeszahlen bekannt wurden, stellt sich die rhetorische Frage, warum die Cuomo-Administration die Zahlen seinerzeit so krass schönte, wenn sie sich doch keiner Verantwortung bewusst war. Und so nimmt der Skandal seinen Lauf, der Fall des vermeintlichen Helden gerät tief.
"Skepsis, Zynismus und Verschwörungstheorien"
Die New Yorker Staatsanwaltschaft ermittelt. Cuomo weist jede Schuld von sich und zeigt keine Reue. "Die Informationslücke, die wir geschaffen haben, ist mit Skepsis, Zynismus und Verschwörungstheorien gefüllt worden", sagt er. "Und die tragen zur Verwirrung bei."
Derweil hat seine engste Mitarbeiterin Melissa de Rosa eingeräumt, man habe Todeszahlen zurückgehalten, um mögliche Ermittlungen zu verhindern – und Donald Trump nicht die Chance zu geben, ob der vielen Opfer möglicherweise in seinen täglichen Corona-Briefings Attacken gegen New York zu fahren. Also habe Cuomos Team lediglich die Todesopfer angerechnet, die in den Pflegeheimen gestorben sind – nicht mitgezählt wurden in der Statistik dagegen diejenigen, die vor ihrem Tod in eine Klinik eingeliefert wurden.
Viele Demokraten in New York, die ohnehin schon länger von Cuomos Hang zur Allmacht genervt sind, fordern nun Erklärungen, wenn nicht gar Konsequenzen vom Gouverneur – und während der öffentlich anmahnt, Emotionen und Ego aus der Debatte rauszuhalten, droht er kritischen Parteikollegen wie dem Abgeordneten Ron Kim laut dessen Angaben unverhohlen: "Ich werde dein Leben zerstören."
Ein Widerspruch: Trumps Gegenentwurf greift offenbar zu Mitteln, die man eher dem ehemaligen Präsidenten zutrauen würde. Ein noch größerer Widerspruch ist höchstens, dass der große Held der Coronakrise 2020 langsam zum gefallenen Helden 2021 mutiert. Es wäre seine letzte Lektion in (politischer) Führung von der Covid-19-Krise. Wenigstens für eine Buch-Fortsetzung würde es dann reichen.