In dieser Lage ohne Hoffnung, allein gegen die Kurden, gegen Assad, kamen die Männer des Islamischen Staats, und sie stellten eine Frage: Was braucht ihr?
Im Norden Syriens arbeiten die Kurden und das Regime eng zusammen, sie haben gemeinsame Checkpoints, das Regime beschießt die Rebellen aus der Luft, während die Kurden sie am Boden angreifen. Und Abdul, der desertierte Assad-Soldat, seit Beginn ein Kämpfer der Revolution, sah keinen Ausweg mehr für seine Einheit. 300 Männer befehligte er, es wurden immer weniger, der Krieg rieb sie auf.
Was braucht ihr?, fragten der Saudi und der Marokkaner, fromme Männer, die im Juli 2013 vor Abdul standen. "Waffen", sagte Abdul. "Essen", sagte er auch. Eine Stunde später hatten sie beides. Die Männer kamen täglich. "Nehmt diese Spende von den Mudschaheddin", sagten sie, vom islamischen Widerstand.
"Ich wollte den Dschihad gegen das Regime"
In diesem Sommer, es war der Fastenmonat Ramadan, wurde Abdul Mitglied der gefährlichsten Terrorgruppe der Welt, und mit ihm seine Einheit. Der Grund? Alternativlosigkeit. Was hätte er machen sollen?, fragt er sich jetzt. Sich und seine Männer von den Kurden abschlachten lassen? Aufgeben? "Im Zimmer sitzen und Nichtstun hätte ich nicht ausgehalten", sagt er. "Ich wollte den Dschihad gegen dieses gottlose Regime."
Der IS war erst am Beginn, aber es war schon klar, was sie von anderen Gruppen unterschied: die Ausländer zum Beispiel, schnell traten 80 Libyer Abduls Einheit bei. Das Geld, woher auch immer es kam, Abdul war begeistert von der Ausrüstung, von der professionellen Organisation. Es faszinierte ihn, dass die IS-Männer sich nicht Gruppe oder Armee nannten, sondern Staat.
"Endlich war da eine Kraft, die gefährlich war für Assad und die Kurden", sagt er. Sie befreiten arabische Dörfer von den Kurden, Abdul hat sich die Zahl gemerkt: 14 arabische Dörfer. Das Regime schickte Kampfjets, jeden Tag, alle paar Stunden. Aber sie kämpften mit einer Moral, die Abdul nie zuvor erlebt hatte. Das Gefühl der Unterlegenheit war verschwunden, sie hatten ihren Stolz wieder.
Abdul war pragmatisch nicht fanatisch
Abdul muss ein guter Kommandeur gewesen sein, obwohl er so jung war, bloß 25 Jahre alt. Es ging ihm um die Revolution, er hielt sich nicht an alle Befehle der IS. Seine Kämpfer durften rauchen, obwohl der IS das Rauchen verbot. Er überprüfte nicht, ob sie sich an die Gebetszeiten hielten. Er war pragmatisch: Die guten Waffen bewahrten seine Männer vor dem Tod.
Zweifel kamen, als der IS ihm Kämpfer nahm und andere schickten. Sie wollten die Einheit durchmischen, sie unterwandern. Abdul versuchte es zu verhindern. Manchmal, wenn er einen Angriffsbefehl als zu gefährlich einschätzte, weigerte er sich einfach. Er widersprach oft.
Freunde waren plötzlich Feinde
Als er einmal nach Rakka reiste, der inoffiziellen Hauptstadt des Islamischen Staats, sah er auf dem zentralen Platz eine Hinrichtung. Drei Männer knieten auf dem Boden, dann schlugen ihnen die Henker den Kopf vom Körper. Regime-Soldaten seien es gewesen, behauptete der IS. Abdul erfuhr, dass es Kämpfer der Freien Syrischen Armee waren, der FSA. Rebellen, wie er selbst einer gewesen war. Die sich seit Jahren im Kampf gegen Assad zerreiben.
"Sie machen das, die öffentlichen Hinrichtungen, damit die ausländischen Kämpfer das Gefühl haben, sie lebten wirklich im Kalifat", sagt Abdul.
Iraker befehlen, aber kämpfen nicht
Einer seiner Kämpfer geriet in IS-Gefangenschaft, als er Munition aus Aleppo zur Einheit fuhr. Abdul suchte ihn wochenlang. Ein Kommandeur sagte, er wisse nicht von dem Gefangenen. Abdul spürte in dem Moment, dass er den IS-Leuten nicht mehr vertraute. Der Kommandeur schwor auf den Koran und sagte: "Wir haben deinen Freund nicht."
Abdul sprach mit Zeugen, die das Gegenteil sagten. Und schließlich fand er seinen Kameraden in einem IS-Gefängnis und erreichte, dass er freikam. Dann besuchte er den Kommandeur und stellte ihn zur Rede. Und hörte ihn sagen: "Ich habe aus gutem Grund gelogen, wir brauchten die Munition, wir haben sie unseren Brüdern im Irak geschickt."
"Die Iraker sind die Befehlshaber beim IS", sagt Abdul. "Nur sie. Sie selbst kämpfen kaum, ich habe nie einen verwundeten Iraker gesehen, sie schicken nur die Ausländer in den Kampf."
Die IS-Leute merkten, dass Abdul fromm, aber nicht strenggläubig war. Jetzt war da Misstrauen. Schließlich besuchte eine Delegation Abduls Camp. Die Männer warfen ihm vor, er missachte Befehle. Abdul bestritt nichts. "Dafür gibt es nur eine Strafe", sagten sie. Aber sie nahmen ihn nicht mit, sie brachten ihn nicht um. Sie unterstützten ihn nur nicht mehr. Sie ließen ihn allein im Kampf gegen die Kurden.
Seine Männer starben im Kampf oder liefen weg, flüchteten in die Türkei, müde und voller Angst. Anfang 2014 waren sie nur noch 50. Abdul fuhr in seinem Pickup übers Land, an einem Checkpoint hielten ihn IS-Kämpfer an. Sie sagten: "Du gehörst nicht mehr zu uns, du bist kein Mudschahed mehr." Sie nahmen ihn gefangen und brachten ihn in ein Gefängnis.
Der Emir brachte Zigaretten ins Gefängnis
Abdul hatte Glück, er hatte noch Kontakte, er kannte einen Emir des Islamischen Staats. Der besuchte ihn im Gefängnis. Sie brachten ihm sogar Zigaretten. Mit einem albanischen Wärter verstand er sich gut. Man befahl ihm, er solle neue ausländische Kämpfer am Gewehr ausbilden. 40 Männer, zwei Deutsche darunter: ein Vater mit seinem Sohn. Abdul zeigte ihnen, wie man eine Kalaschnikow bedient, übte mit ihnen.
Es dauerte nur ein paar Tage, dann fragte der Emir, ob Abdul nicht wieder für den IS kämpfen wolle. Abdul erinnerte sich an die Hinrichtungen, die Lügen und lehnte ab.
Sechs Kämpfer der al-Nusra-Front, eines Ablegers von al Kaida, und mit dem IS verfeindet, kamen ins Gefängnis. Ein Scharia-Richter aus Tunesien, 27 Jahre alt, rief sie in den Gefängnishof und sprach das Todesurteil. Abdul stand daneben und hörte es, und er widersprach. Er habe keine Angst gehabt, sagte er. Er rief: "Das sind Gegner, keine Todfeinde, warum sollten wir sie töten wie Schafe? Warum versuchen wir nicht, sie für uns gewinnen, für unsere Sache?"
Abdul hatte Leben gerettet
Abdul hielt eine kleine Rede. Das Publikum, IS-Kämpfer und andere Gefangene, hörten zu, nickten. Plötzlich wollte niemand mehr die Hinrichtung. Der Tunesier ging. Abdul hatte mit seinen Worten ein Scharia-Urteil abgewendet, er hatte den Verurteilten das Leben gerettet.
Zwei Wochen war er im Gefängnis, als der Emir ihn wieder besuchte. "Willst nicht auch du Emir werden", fragt er. Abdul lehnte wieder ab, wie er es immer tat, der Fanatismus hatte ihn nie angesteckt, die Angst ihn nie überwältigt. Wenn Abdul heute spricht, hört man einen Menschen reden, der mit sich im Reinen ist. Einen gesunden Charakter, der stundenlang erzählt, jedes Detail, der nichts verdrängen will und dennoch bereut.
Alternative Diktatur oder Kalifat
Er wollte nicht mehr kämpfen. Lieber im Zimmer sitzen und nicht mehr Teil der Revolution sein, jetzt doch. Lieber als für die falsche Revolution kämpfen. Der Emir ließ ihn aus dem Gefängnis frei, überließ ihm ein Pickup und befahl ihm, sich bei ihm zu melden, jeden Donnerstag.
Abdul, der aus der Assad-Armee desertierte und ein Rebell wurde, verließ Syrien. Das Land, das inzwischen nur noch die Alternative hat zwischen Diktatur und Kalifat, eine schreckliche Alternative. Abdul und viele andere Rebellen zweifeln an sich selbst, Abdul erschrickt beim Gedanken daran, was aus Syrien geworden ist.
Am Tag seiner Flucht fuhr er ins Dorf seiner Familie und nahm seine Frau mit. Sie schafften es in die Türkei. Frieden, nach zwei Jahren Krieg. Im Frühsommer dann die Nachricht: Sie werden Eltern.
Das Kalifat - Report aus der Finsternis
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