Tausende Menschen sind in den vergangenen Wochen vom Norden in den Süden des Gazastreifens geflohen. Mit Karren und Eseln oder selbst schwer bepackt haben Palästinenser ihre Hab und Gut geschultert und sind der Aufforderung der israelischen Regierung gefolgt, den Norden noch vor der angekündigten Bodenoffensive zu verlassen. Doch nicht alle sind gegangen. Viele sind geblieben. Was manche von ihnen hält, ist die Angst um die Heimat.
"Die Erfahrung, die wir 1948 mit unseren Familien gemacht haben, hat uns gelehrt, dass man nicht zurückkehren kann, wenn man weggeht", sagt Khader Dibs, der im überfüllten Flüchtlingslager Shuafat am Stadtrand von Jerusalem lebt, der Nachrichtenagentur Associated Press (AP). Dibs bezieht sich auf ein Ereignis, das sich tief in das palästinensische Gedächtnis eingegraben hat. Es hängt unmittelbar mit der Staatsgründung Israels zusammen und prägt das Schicksal der staatenlosen Palästinenser bis heute.
Staatenlos in der eigenen Heimat
Dibs spricht von der Nakba, arabisch für "Katastrophe", von 1948. Schätzungen zufolge wurden damals mehr als 700.000 Palästinenser vom sich damals etablierenden israelischen Staatsgebiet vertreiben. Die Nakba begann bereits 1947, als sich die jüdische Bevölkerung in der Region ansiedelte und Ansprüche auf das Land erhob. Am Tag nach der Gründung Israels 1948 erklärten die Nachbarstaaten Ägypten, Jordanien, Libanon, Irak und Syrien dem jungen Staat den Krieg – und verloren. Israel eroberte drei Viertel des ehemaligen Britisch-Palästina.
Dokumente, die Historiker erst ab Mitte der 1980er Jahre einsehen konnten, zeigen, wie gewaltsam die Palästinenser aus dem Gebiet vertrieben wurden. Ortschaften wurden demnach systematisch zerstört oder umbenannt, die Bewohner flüchteten entweder von selbst oder wurden vertrieben. Es gab Massaker und Plünderungen. Wer in Israel blieb, für den galt das Kriegsrecht. Ihre Grundrechte wurden eingeschränkt; den israelischen Behörden galten die Palästinenser als Sicherheitsrisiko. Die Menschen wurden zudem enteignet und der Besitz dem israelischen Staat unterstellt. Der palästinensische Nationaldichter Mahmud Darwisch bezeichnete sie als "Fremde im eigenen Land".
Wer nicht in Israel blieb, ging in die übrig gebliebenen Ländereien: ins Westjordanland oder den Gazastreifen. Die Mehrheit der vertriebenen Palästinenser flüchtete jedoch in die umliegenden arabischen Nachbarstaaten, wie den Libanon, Syrien oder Jordanien. Doch dort wartete auf die Menschen lediglich ein staatenloses Flüchtlingsdasein in Zeltstädten, teilweise mit Sicherheits- und Zugangsbeschränkungen.
1948 wurde das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) ins Leben gerufen. Wer seine Existenzgrundlage durch den arabisch-israelischen Krieg verloren hatte und in den zwei Jahren zuvor im palästinensischen Mandatsgebiet seinen Wohnsitz hatte, wurde registriert und von den Vereinten Nationen versorgt. Anspruchsberechtigt sind bis heute auch die Nachkommen der damals registrierten Flüchtlinge.
Flüchtlinge auch beim Hilfswerk nicht sicher
Heute zählt das UNRWA in der gesamten Region fast sechs Millionen Vertriebene. In den 149 Einrichtungen im Gazastreifen halten sich derzeit nach UN-Angaben fast 700.000 Binnenflüchtlinge auf. Doch die Bedingungen sind prekär: Die Lager sind überfüllt, zusätzlich zu den psychischen Belastungen der Menschen steigen auch die Gesundheitsrisiken. "Es wurden bereits mehrere Fälle von akuten Atemwegsinfektionen, Durchfall und Windpocken unter den Menschen gemeldet, die in UNRWA-Unterkünften Zuflucht suchen", heißt es von der Organisation.
Vor den israelischen Luftangriffen, die eigentlich der Terroristenmiliz Hamas gelten, sind die Menschen in den Unterkünften auch nur bedingt sicher. 23 Flüchtlinge sollen in den Unterkünften getötet und 340 durch die Angriffe verletzt worden sein. Unter anderem deshalb wird Israel ein Genozid an der palästinensischen Bevölkerung vorgeworfen. Völkerrechtler widersprechen dem Vorwurf aber aus mehreren Gründen.
Wahrscheinlicher scheint derzeit ohnehin ein anderes Szenario: "Sehen Sie sich die Bilder von Menschen ohne Autos, auf Eseln, hungrig und barfuß an, die auf jede erdenkliche Weise in den Süden fliehen", sagte der politische Analyst Talal Awkal AP. Anders als Dibs ist er in Gaza-Stadt geblieben. Auch der Evakuierungsaufforderung der israelischen Regierung ist er nicht nachgekommen. Awkal glaubt nicht, dass es im Süden sicherer ist. Die Fluchtbewegung bezeichnet er als "Katastrophe für die Palästinenser, eine Nakba".
Will Israel Gaza wirklich leer räumen?
Bestätigt wurden seine Befürchtungen zuletzt von dem israelischen Parlamentsabgeordneten Ariel Kallner. Nach dem blutigen Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober kündigte er auf der Plattform X (vormals Twitter) mit drastischen Worten eine Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen an. Die Botschaft ist nur eingeschränkt sichtbar, weil sie möglicherweise den Regeln der Nachrichtenplattform entgegensteht. "Im Moment ein Ziel: Nakba! Eine Nakba, die die Nakba von 48 in den Schatten stellen wird. Nakba in Gaza und für jeden, der es wagt, sich anzuschließen!", schrieb Kallner, der auch der rechtsnationalen Likud-Partei angehört. Im rechten politischen Lager Israels sind solche Forderungen besonders populär.
Ende Oktober berichtete die Enthüllungsplattform Wikileaks zudem von Plänen des israelischen Nachrichtendienstministeriums, wonach die Menschen aus dem Gazastreifen auf die ägyptsche Sinai-Halbinsel umgesiedelt werden sollen. Auch israelische Medien berichteten von dem Papier. Laut dem von Wikileaks auf X geteilten Dokument soll die Umsiedlung in einem mehrstufigen Prozess ablaufen. Demnach solle die Bevölkerung im Gazastreifen in den Süden evakuiert werden, während die Region im Norden aus der Luft angegriffen werde. Für die zweite Phase ist eine Bodenoffensive vorgesehen, um den gesamten Gazastreifen zu besetzen und die unterirdischen Bunker "von Hamas-Kämpfen zu säubern". Gleichzeitig sollen die Zivilisten auf ägyptisches Gebiet gebracht werden.
Für den Fall, dass die Zivilisten dem nicht folgen, will die israelische Regierung die Menschen dazu motivieren, ihr Land aufzugeben. Mit einer Kampagne bei den westlichen Verbündeten wolle man die Umsiedlung als humanitäre Notwendigkeit bewerben und so unterstützen.

Die Regierung unter Benjamin Netanjahu plane demnach Zeltstädte im Sinai und einen anschließenden humanitären Korridor. Danach sollen Städte im nördlichen Teil der Halbinsel gebaut werden, "aus denen es kein Zurück mehr geben" soll, berichtet Wikileaks.
Zumindest der bisherige Evakuierungsaufruf der israelischen Regierung und die Bodenoffensive passen ins Bild. Den Menschen bleibt derzeit nichts anderes übrig, als in den Süden zu flüchten – sofern sie sich nicht dazu entscheiden, im Norden zu bleiben – denn die israelischen Grenzen sind abgeriegelt. Allerdings hat Ägypten den einzigen Grenzübergang zum Gazastreifen zunächst nur für ausländische Zivilisten geöffnet. Doch auch darauf ist Israel laut dem Geheimdienst-Dokument vorbereitet: Die USA sollen Ägypten davon überzeugen, die Zivilisten aufzunehmen. Ob das klappt?
Der frühere CIA-Mitarbeiter Bruce Riedel ist zumindest skeptisch. Im stern-Gespräch sagte er: "Es wäre logisch, wenn Ägypten Verantwortung für Gaza übernehmen würde. (...) Aber die Ägypter wollen diese Verantwortung nicht mehr." Riedel glaubt, dass Israel überhaupt keinen Plan für den Gazastreifen hat.
Das nun veröffentlichte Dokument des israelischen Geheimdienstes ist zwar ein Hinweis. Die dort beschriebenen Pläne müssen allerdings nicht genau so umgesetzt werden. Denn das Nachrichtendienstministerium erstellt regelmäßig Studien und Strategiepapiere. Diese werden an Regierung und Behörden weitergeleitet – müssen aber nicht umgesetzt werden. Die Teilung Gazas in einen nördlichen und einen südlichen Teil dürfte die Ängste der Palästinenser in dem Küstenstreifen aber einmal mehr befeuern.
Quellen: Bundeszentrale für politische Bildung, Wikileaks, UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, Associated Press, "Mekomit", "+972 Magazine", Twitter.