Nach dem Massaker in der Stadt Butscha bei Kiew sind ukrainischen Medienberichten zufolge deutlich mehr als 300 Leichen von Zivilisten geborgen worden. Bis Sonntagabend seien bereits 330 bis 340 leblose Körper eingesammelt worden, schrieb die Zeitung "Ukrajinska Prawda" am Montag unter Berufung auf einen Bestattungsdienst. Am Montag wurde die Suche nach weiteren Opfern fortgesetzt. Einige Leichen seien in Hinterhöfen vergraben, hieß es.
Am Sonntag hatte die ukrainische Seite bereits vom Fund eines Massengrabes mit etwa 280 Toten berichtet, die während der russischen Angriffe nicht würdig hätten bestattet werden können. Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft kündigte eine Obduktion der Leichen an, um das Verbrechen aufzuklären. Auch internationale Ermittler sollen eingeschaltet werden. Insgesamt sollen im Kiewer Gebiet bislang die Körper von mehr als 400 toten Zivilisten geborgen worden sein.
Butscha:"Moskau ist ein Meister darin, die Beweislast umzukehren"
Die Bilder aus der Vorortgemeinde der Hauptstadt, wo nach dem Abzug russischer Truppen zahlreiche Leichen von Bewohnern auf den Straßen gefunden worden waren, haben international für Entsetzen gesorgt. Die Ukraine macht für das Massaker russische Truppen verantwortlich, die die Stadt bis vor kurzem besetzt hatten. Moskau bestreitet das. Die russische Botschaft in Berlin sprach beispielsweise von einer "Inszenierung des Kiewer Regimes für westliche Medien".
So kommentiert die internationale Presse die Gräueltaten in Butscha:
"Politiken", Kopenhagen: "Niemand außerhalb von Russlands Zensur kann noch länger Zweifel daran haben, dass schwere russische Kriegsverbrechen in der Ukraine begangen worden sind und nach wie vor begangen werden. Aber es wird immer schlimmer. Zuletzt sind es die Gräuelberichte aus Butscha, der Vorstadt von Kiew, die erschüttern. Die Liste der Vorwürfe wächst. In Bezug auf die Art der Verbrechen wird eine Grenze nach der nächsten verschoben. Erlasst deshalb einfach jetzt den internationalen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Gebt ihm seinen Pariastatus auch auf Papier. Und baut dann das Verfahren gegen ihn und seinen inneren Kreis auf, damit kein Verbrechen übersehen wird."
"Lidove noviny", Prag: "Die Ermordung von Zivilisten in Butscha schockiert die Welt. Die Ukrainer vergleichen die Gräueltat mit dem serbischen Massaker an bosnischen Muslimen in Srebrenica im Jahr 1995. Da ist etwas dran, wenngleich in Srebrenica Tausende und in Butscha Hunderte ermordet wurden. Für den Westen wird es nun schwieriger, ukrainische Bitten um Hilfe abzulehnen. Zudem erschweren die Enthüllungen die laufenden Friedensverhandlungen zwischen Kiew und Moskau - besonders wenn das russische Verteidigungsministerium zynisch behauptet, dass es sich um einen ukrainischen Betrug handele und russische Soldaten niemandem auch nur ein Haar gekrümmt hätten."
"DNA", Straßburg: "Ob in Zeiten der UdSSR oder jetzt in der Russischen Föderation – Moskau ist ein Meister darin, die Beweislast umzukehren, insbesondere wenn es darum geht, das Ungerechtfertigte zu rechtfertigen. Seit dem Auseinanderbrechen des Sowjetblocks, dessen Zerfall er nie akzeptiert hat, pocht (der russische Präsident) Wladimir Putin seit zwei Jahrzehnten auf sein Recht, die Interessen der russischsprachigen Bevölkerung zu verteidigen. (...) Estland, Lettland, Moldawien, Serbien. So weit könnte die Eingliederungsobsession des Kremlherrn gehen, wenn es zu separatistischen Bestrebungen oder Konflikten zwischen den Völkergruppen kommen sollte. Um dem Westen ein neues Machtverhältnis aufzuzwingen, versucht Wladimir Putin vor allem eins: Er will seine Gegner spalten."
"De Telegraaf", Amsterdam: "Die Beweise für russische Kriegsverbrechen scheinen sich zu häufen. Gräueltaten sollen nicht nur in Butscha und der zerstörten Stadt Mariupol begangen worden sein. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kann nach eigenen Angaben beweisen, dass auch in anderen Regionen Zivilisten Opfer von "unsäglichen, vorsätzlichen Grausamkeiten" geworden sind. (...)
Die schrecklichen Bilder werden den Druck auf die westlichen Länder erhöhen, mehr Sanktionen gegen Russland zu verhängen und der Ukraine stärkere Waffen zu liefern. Nach Ansicht des deutschen Vizekanzlers Habeck darf dieses "furchtbare Kriegsverbrechen" in Butscha nicht unbeantwortet bleiben. Es ist nur logisch, dass nun auch eine gründliche internationale Untersuchung der Verstöße gegen das Kriegsrecht und wegen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeleitet werden muss."
"Rzeczpospolita", Warschau: "Wir kennen noch nicht das ganze Ausmaß dieses russischen Verbrechens und viele seiner Details. Aber wir werden es herausfinden. Vor allem können wir es nicht begreifen. Es will einfach nicht in den Kopf. Wir kennen Ausdrücke wie "Bestialität des Krieges", "Barbarei der Besetzer", "zu Tieren gewordene Soldaten", aber wir hatten die Hoffnung, dass sie sich in Europa für immer auf Ereignisse der Vergangenheit beziehen.
Nein, es ist die Gegenwart. Es ist der Alltag der russischen Armee bei ihrem Eroberungsfeldzug. Wir wissen, wer dafür verantwortlich ist. Genauso, wie wir wussten, wer für die Kriegsverbrechen im Jugoslawienkrieg in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts verantwortlich war. Ein Teil der Täter wurde verurteilt. Warum sollen wir jetzt davon ausgehen, dass es nicht auch so sein wird? Weil die Russen Atomwaffen haben, und die bosnischen Serben damals nicht? Oder dürfen die russischen Kommandeure aus Butscha und Mariupol deshalb ruhig schlafen, weil hinter ihnen der wegen seiner Rohstoffe attraktive Kreml steht? Sind Schlächter und Massenmörder deshalb keine Schlächter und Massenmörder, weil ihr Land einen festen Sitz im UN-Sicherheitsrat hat?"

"Público", Lissabon: "Einige Äußerungen von Präsident Joe Biden wurden von der US-Diplomatie und seinen Verbündeten schnell abgeschwächt. Er nannte Putin einen "Kriegsverbrecher" und "Schlächter" und fügte hinzu: "Um Gottes willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben." Hatte Mariupol bereits gezeigt, dass der erste Vorwurf richtig war, zeigen die Bilder der Gräueltaten in Butscha, dass die Bezeichnung "Schlächter" leider auch stimmt. Sind es Einzelfälle verwirrter Soldaten oder ein Verhalten, das von der Idee der "Entnazifizierung" der Ukraine geprägt ist?
Sicher ist, dass es mit diesen Grausamkeiten der "Befreiungsarmee" immer schwieriger wird, den Satz, dass "dieser Mann nicht an der Macht bleiben kann", nicht für richtig zu halten. Doch dem steht entgegen, dass der Westen weiter mit Russland umgehen muss und es sich um einen Diktator mit Atomwaffen handelt. Sollte der Westen also nichts tun? Nein, im Gegenteil, die Vorstellung, dass Putin am Ende trotz all des Entsetzens über seinen Einmarsch in die Ukraine weiter im Kreml sitzt, macht es umso dringlicher, ihm einen eventuell behaupteten Sieg so bitter wie möglich zu machen."
"Wall Street Journal", New York: "Der russische Rückzug aus der Region Kiew stellt einen Rückschlag für die ursprünglichen Kriegsziele dar, ist aber noch keine Niederlage für Putin. (...) Umso bestürzender ist es, dass Vertreter (der Regierung von US-Präsident Joe Biden) weiterhin behaupten, der Krieg sei eine "strategische Niederlage" für Herrn Putin. Sie wiederholen dieses Argument, als wollten sie die Amerikaner davon überzeugen, dass der Krieg bereits gewonnen sei. (...) Nein, das ist er nicht. Russland hat Tausende von Ukrainern getötet, unermesslichen Schaden angerichtet und kontrolliert immer noch mehr Gebiete als vor der Invasion. Wenn Putin einen Waffenstillstand erreicht, der diese Gebietsgewinne bestätigt, wird er sich den Teil der Ukraine geschnappt haben, in dem sich der Großteil der Energieressourcen des Landes befindet. (...)
Das Ziel des Westens sollte nicht eine abstrakte "strategische Niederlage" sein, sondern eine tatsächliche Niederlage, die für jeden, auch für die russische Öffentlichkeit, offensichtlich ist. Die Ukraine wird entscheiden müssen, wie lange sie bereit ist zu kämpfen. Solange sie jedoch dazu bereit ist, sollten die USA und die Nato ihr all die militärische Unterstützung und die Sanktionen gewähren, die sie benötigt. Wenn Putin von diesem Krieg profitiert, wird es in Zukunft weitere Invasionen, weitere Kriegsverbrechen und weitere schreckliche Szenen wie in Butscha geben."