Als Russland am Morgen des 10. Oktober mehrere ukrainische Städte bombardiert, 23 Menschen tötet und mehr als hundert verletzt, freut sich Julia P. Wenige Stunden nach den Angriffen lädt sie bei Tiktok das Video einer schweren Explosion in Dnipro hoch. Den Raketeneinschlag inmitten eines Wohngebiets kommentiert die Russin auf ihre Art: Sie tanzt dazu.
Das Posting ist eines unter hunderten, in denen die 30-Jährige den Angriffskrieg ihres Landes verherrlicht. In anderen hetzt sie gegen die Ukraine oder propagiert den Zerfall des Westens. Vor knapp vier Wochen wird es dann plötzlich still auf ihrem Tiktok- und Telegram-Profil. Die Staatsanwaltschaft kommt, durchsucht ihre Wohnung im bayrischen Landshut. Die Ermittler des Kommissariats für Staatsschutz der Landshuter Kripo beschlagnahmen drei Smartphones und ein Notebook. Man ermittle wegen des Verdachts der Beleidigung und der Billigung von Straftaten, teilen die Behörden mit.
Hat es Julia P., in russischen Berichten und sozialen Netzwerken meist als "Bloggerin" bezeichnet, mit ihren Provokationen "nur" übertrieben? Gemeinsame Recherchen von RTL und stern zeigen, dass hinter P.s Auftreten im Netz mehr steckt: von Russland geförderte Propaganda.
Fast 108.000 neue Telegram-Follower an einem Tag
Schon P.s Werdegang bei Telegram ist auffällig. Am 7. März 2021, also gut ein Jahr vor Kriegsbeginn, erstellt sie einen Kanal und nennt ihn "Deutschland aus der Ich-Perspektive". Lange Zeit passiert: nichts. Lediglich 19, inzwischen gelöschte Beiträge gehen online, ehe P. ihre Follower am 9. März dieses Jahres mit einem "Hallo zusammen" begrüßt. Sie teilt mit: Bei ihr werde es keine "Propaganda Russlands, der Ukraine oder anderer Länder" geben. Nur sieben Minuten später postet sie einen TV-Ausschnitt, der sich über den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj lustig macht.
In der Folge postet P. kriegsverherrlichende Inhalten, sie schießt auch auf den angeblich marodierenden Westen ein. Der plane, "Russland zu zerstören". In Deutschland laufe generell alles schlecht, das Land sei für sie als Russin besonders gefährlich, behauptet P., die auch den Beitrag eines Kreml-treuen und für seine verschwörungsideologischen Inhalte bekannten deutschen Blogs verbreitet. In einem anderen Posting beschwert sich die 30-Jährige über eine ukrainische Flüchtlingsunterkunft und hetzt: Ihr sei "noch immer übel von dem unglaublichen Gestank im Inneren".
Wirklich Gehör verschafft sich P. durch Propaganda und Hasstiraden nicht. Trotz reger Bespielung dümpelt ihr Kanal beständig bei unter 1500 Followern herum, bis er am 12. Mai plötzlich wachgeküsst wird: 107.616 neue Abonnenten weist das Analysetool Telemetrio für den Tag aus. Ein nicht erklärbarer Zuwachs, auch wenn sie drei Tage zuvor in München einen besonderen Auftritt hatte.
Julia P. schon länger auf dem Radar der Behörden
Am 9. Mai tanzt P. mal wieder. An dem Tag, an dem Russland traditionell den Sieg über Nazi-Deutschland feiert, hüllt sie sich in eine russische Flagge und zeigt sich mitten in München auf einer Pro-Ukraine-Demo. Die Aufnahmen gehen bei Twitter viral. P. gerät erstmals in den Fokus einer größeren Öffentlichkeit – inklusive eines Auftritts bei RT-Journalistin Olga Bataman. Sie präsentiert sich als Patriotin, sie wolle lediglich der steigenden Russophobie in Deutschland entgegentreten.
All das könnte zwar begründen, warum die 30-Jährige ihre noch bescheidene Followerschaft am 11. Mai mehr als verdoppelt. Nicht aber, warum tags drauf fast 108.000 User ihrem Profil neu folgen. Der enorme Zuwachs legt nach stern und RTL-Recherchen die Erklärung nahe: P. – oder jemand anderes mit einem Interesse daran – half der Reichweite ihres Kanals durch zugekaufte Abonnenten auf die Sprünge. Dafür spricht auch, dass von ihren in der Spitze rund 112.000 Followern nur etwa 41.000 übrig geblieben sind.
Was P. vermutlich nicht ahnt: Bei der Staatsanwaltschaft gehen Anzeigen gegen sie ein. Auch die Behörden haben die Russin nun auf dem Radar. So bekommen die Ermittler mit, wie sie das durch russische Soldaten verübte Massaker an Zivilisten in Butscha als inszeniert bezeichnet oder empfiehlt, auf die drohenden Engpässe mit Verschwendung von Strom und Gas zu reagieren.
Nicht entgangen sein wird den Behörden zudem ein Treffen mit der pro-Kreml Aktivistin Elena K. in Benrath bei Düsseldorf. Die gebürtige Ukrainerin gilt in der Szene der "Neuen Rechten" als sehr gut vernetzt. Unter anderem trat sie im August beim Sommerfest des rechtsextremen "Compact"-Magazins als Rednerin auf. Knapp vier Monate zuvor sorgte sie als Organisatorin eines pro-russischen Autokorsos in Köln für Aufsehen. An der Kundgebung anlässlich des Jahrestags der Kapitulation Nazi-Deutschlands nahmen auch Mitglieder der "Nachtwölfe", einem Putin-nahen und für seine nationalistische und anti-westliche Gesinnung bekannten Motorrad- und Rockerclub, teil. Julia P. jedenfalls schwärmt nach dem Treffen im Juni von Elena K.: "Du bist unglaublich", schreibt die 30-Jährige. "Ich liebe und verehre dich!!!"
Selfies aus Schützengräben, Kinder in Panzern: Putins Propaganda benutzt Geschichte als Waffe
Staatsanwaltschaft: P. nicht in Untersuchungshaft
Anfang August macht P. erneut Schlagzeilen. In einem später gelöschten Video verfolgt und beleidigt sie ukrainische Flüchtlinge in Salzburg. Wieder gehen Bilder davon viral – diesmal haben sie für P. jedoch auch direkte Konsequenzen. Das Hotelbuchungsportal Booking.com habe ihre Reservierungen storniert und ihr Profil gesperrt, beschwert sich die 30-Jährige. Wieder wird sie ins russische Staatsfernsehen eingeladen und darf sich rechtfertigen. Daneben berichten auch erste westliche Medien über sie, im Netz werden persönliche Informationen veröffentlicht. Berichterstattung und Shitstorm haben Wirkung: P. löscht ihr Tiktok-Konto und stellt ihren Telegram-Kanal zeitweise auf privat.
Mit neuem Tiktok-Profil und wieder offenem Telegram-Kanal geht die Propagandashow wenig später weiter – bis zur Wohnungsdurchsuchung am 14. Oktober.
Julia P. wurde von der Polizei vorgeladen, doch der Einladung sei sie nicht gefolgt, teilt der Landshuter Oberstaatsanwalt Martin Strunz auf stern/RTL-Anfrage mit. In wie vielen Fällen gegen Julia P. ermittelt werde? Das darf Strunz nicht sagen, "weil die Ermittlungen hierzu – insbesondere durch Auswertung der bei der Beschuldigten sichergestellten elektronischen Geräte – noch andauern". Mit ersten Ergebnissen sei erst in mehreren Wochen zu rechnen. Strunz erklärte, dass neben anfangs erwähnten Verdachtsmomenten auch geprüft werde, ob Veröffentlichungen P.s den Tatbestand der Bedrohung erfüllen. Für die im Raum stehenden Delikte nennt er einen Strafrahmen, der von einer Geldstrafe bis hin zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren reicht.
Das von russischen Medien verbreitete Gerücht, wonach P., die sich ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland aufhält, wegen Fluchtgefahr in Untersuchungshaft sei und ihre Familie nicht kontaktieren dürfe, dementierte Strunz. Abschiebungen nach Russland seien derzeit ausgesetzt.
Julia P. mit Profilen auf mehreren Escort-Portalen
Fest steht, dass Julia P., die sämtliche Interviewanfragen unbeantwortet ließ, nicht zum ersten Mal in Deutschland ist. Allein zwischen Februar 2020 und Dezember 2021 flog sie mindestens fünf Mal aus ihrer Heimatregion Samara nahe der Grenze zu Kasachstan oder direkt aus Moskau nach Deutschland – viermal nach München, einmal nach Frankfurt am Main.
Oberstaatsanwalt Strunz bestätigte die Einreisen. Warum sich die im Dorf Besentschuk geborene P. damals in Deutschland aufhielt und ob sie dafür das benötigte Visum hatte, wollte Strunz nur dahingehend kommentieren, dass "eventuell in Betracht kommende Vergehen nach dem Aufenthaltsgesetzt Gegenstand der laufenden Ermittlungen sind".
Auf P.s Profilen gibt es keine Beiträge zu den Reisen. In den sozialen Netzwerken scheint die Russin – ein auf privat gestelltes Konto beim russischen Facebook-Pendant VKontakte und ein gelöschtes Instagram-Profil ausgenommen – ohnehin erst nach Kriegsbeginn im größeren Stil aktiv. Allerdings gibt es im Internet auf mehreren eindeutigen Portalen Einträge zu ihr, die nahelegen, dass P. zeitweise als Escortgirl tätig war. Das könnte ihre regelmäßigen Flüge in die russische Hauptstadt Moskau sowie nach St. Petersburg erklären. Eine Überprüfung mittels einer Gesichtssoftware ergab zweifelsfrei, dass es sich bei den in den Escort-Profilen abgebildeten Frauen um Julia P. handelt.
In einem dem stern und RTL vorliegenden Auszug eines russischen Personenregisters wird P. für 2019 sowohl als Kassiererin wie auch als arbeitslos geführt. Ob sie ihrer Tätigkeit in einer Supermarktkette auch zuletzt, also vor ihrer Einreise nach Deutschland, nachging, ist in dem Dokument nicht ersichtlich. Eine frühere Bekannte, die wir über alte gemeinsame Bilder finden konnten, bestätigte uns, dass P. als Kassiererin in Samara gearbeitet hat. Der Kontakt zu Julia P. sei vor etwa zehn Jahren jedoch abgebrochen, so Elena V.
Dass sich eine, mindestens zeitweise arbeitslose Kassiererin mehrere Flüge nach Europa leisten kann, erstaunt. Zumal P. zwischen 2017 und 2021 auch mehrere Reisen nach Dubai und Hongkong unternahm. Woher kam das Geld dafür?
Eine Einnahmequelle könnten Auftritte in russischen TV-Sendungen gewesen sein, durch die P. in den letzten Jahren getingelt sein soll. Zumindest ein Auftritt aus dem Mai 2021 findet sich im Netz. Damals nahm P. an der Kuppel-Show "Lass uns heiraten! – Braut aus Rache" teil, einem häufig auch für anti-westliche Propaganda genutzten Unterhaltungsformat. In der Sendung sagt P., dass sie bereits verheiratet gewesen sei und sich an der Frau rächen wolle, die "ihren Ehemann gestohlen" habe. P.s Ex-Mann, der anonym bleiben wollte, berichtete uns hingegen eher negativ von der etwa einjährigen Ehe – P. habe eine zeitlang ihre Rolle gespielt, sich dann aber sehr verändert.
Warum Landshut?
Es bleibt die Frage, was Julia P. antrieb, aus der mehr als 3300 Kilometer entfernten Millionenstadt Samara ins beschauliche Niederbayern zu ziehen? Bekannt ist, dass P. in Landshut mit ihrem angeblichen Lebenspartner Kevin L. zusammenwohnt. In P.s Postings spielt die Beziehung kaum eine Rolle. Ab und zu ist L. zu sehen, mal wird er als "mein Mann" erwähnt, typische Pärchenbilder aber finden sich kaum. Oberstaatsanwalt Strunz wollte das persönliche Verhältnis zwischen P. und L. mit Verweis auf die Wahrung von Persönlichkeitsrechten nicht kommentieren.
Auch L. nannte P. in einem RTL-Interview bei erwähnter Demonstration in München "meine Frau". Danach befragt, ob er es verstehen könne, dass Ukrainer es als zynisch empfinden könnten, wenn die russische Bevölkerung feiere, während in der Ukraine Krieg herrsche, verteidigte L. seine Lebenspartnerin. Die Feierlichkeiten hätten nichts mit der aktuellen Situation zu tun, sagte L. Aktuell sei alles emotional sehr aufgeladen, man dürfe jetzt aber "nicht alle Russen diskriminieren oder verurteilen".
Für die Social-Media-Aktivitäten seiner "Frau" gilt die Forderung nach Neutralität offensichtlich nicht. Vielmehr war L. offenbar sogar an ihnen beteiligt. stern und RTL-Recherchen zeigen, dass zumindest ein Kanal-Admin "Kevin" mehrere Postings absetzte. Beschuldigtenstatus hat L. nach derzeitigem Ermittlungsstand nicht. Bei der Auswertung der sichergestellten elektronischen Geräte gehe es aber auch um die Frage, "wem strafrechtlich relevante Posts und Inhalte zuzurechnen sind", so Oberstaatsanwalt Strunz. Es werde in alle Richtungen ermittelt. Kevin L. ließ mehrere Anfragen mit Bitte um Stellungnahme unbeantwortet.
Im Auftrag Russlands in Deutschland aktiv?
War es also die angebliche Beziehung zu L., die P. nach Landshut zog? Eine andere Erklärung warf kürzlich der russische Journalist und Fernsehmoderator Alexander Newzorow in den Raum. Newzorow galt einst als Putin-Vertrauter, landete im Mai nach kritischen Aussagen zum Krieg jedoch auf einer Fahndungsliste des russischen Innenministeriums und floh nach Italien. Dieser Newzorow griff P. namentlich in einem am 16. Oktober bei Youtube veröffentlichten Video auf – und seine Aussagen hatten es in sich.
Newzorow berichtet in dem Video zunächst von "russischen Tantchen", die in Europa angesiedelt worden seien, um von dort aus "auf Patriotismus zu machen" und "zu pöbeln und Streit zu suchen". Als "Archetyp solcher Art Kriegsreporter" nennt der 64-Jährige explizit: Julia P. Die 30-Jährige bekomme für ihre Aktivitäten Geld, das sie regelmäßig aus Moskau erhalte, unterstellt Newzorow.
Belege liefert der Journalist nicht. Wir hätten ihn gerne gesprochen, er ließ jedoch mehrere schriftliche und telefonische Kontaktversuche unserer Redaktionen unbeantwortet.
Dass P. Gönner im Hintergrund hat, glaubt auch P.s Ex-Mann. Er vermutet, dass sie von "denjenigen finanziert wird, deren Interessen sie vertritt", schrieb er uns.
Nach der Durchsuchung geht's in eine Propaganda-Show
Dass sich ein Mann vom Rang Newzorows mit einer, bis vor wenigen Monaten völlig unbedeutenden Telegramerin beschäftigt und Details aus ihrem Leben kennt, ist zumindest bemerkenswert. Der Staatsanwaltschaft Landshut waren die Äußerungen Newzorows unbekannt, sagt Strunz. Man werde sie auf strafrechtliche Relevanz überprüfen. Zum Vorwurf Newzorows, P. werde für ihre Aktivitäten in den sozialen Netzwerken von Russland bezahlt, lägen "bislang keine konkreten Erkenntnisse vor", so Strunz.
Noch am Tag der staatsanwaltschaftlichen Durchsuchung ist Julia P. mal wieder im russischen Staatsfernsehen zu sehen. In der Propaganda-Show "AntiFake" des Senders Perwyj Kanal wird sie dem Publikum unter falschem Namen in Daunenjacke und übergezogener Kapuze in ihrem Wohnzimmer präsentiert. Es sei in Deutschland so kalt, dass sie friere, berichtet sie.
Dass an dem Tag Temperaturen von gut 20 Grad in Bayern herrschen, erfahren die Zuschauer nicht.
Weitere Quellen: Telegram-Account Julia P. / Tiktok-Profil Julia P. / www.ukrinform.ua / Youtube-Video von Alexander Newzorow / TV-Sendung "Lass uns heiraten! – Braut aus Rache" / Staatsanwaltschaft Landshut / Telemetr.io /