Besuch in Washington Minutenlanger Applaus: Selenskyj hält historische Rede vor US-Kongress

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vor dem US-Kongress
"Euer Geld ist keine Wohltätigkeit, sondern eine Investition in die weltweite Sicherheit": der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vor dem US-Kongress
© Carolyn Kaster / DPA
Sehen Sie im Video: Selenskyj wirbt im US-Kongress um Unterstützung beider Parteien.






STORY: Am Ende seiner Rede vor dem US-Kongress überreicht der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj der Sprecherin des Abgeordnetenhauses Nancy Pelosi eine von Solkdaten signierte ukrainische Flagge aus der belagerten ukrainischen Stadt Bachmut. Als Zeichen der Hoffnung und der Verbundenheit. Zuvor hatte er in seiner auf Englisch gehaltenen Rede um die weitere Unterstützung der USA gebeten. "Es ist eine große Ehre für mich, im US-Kongress zu sein und zu Ihnen und allen Amerikanern zu sprechen. Entgegen aller Unkenrufe und Untergangsszenarien ist die Ukraine nicht untergegangen. Die Ukraine lebt und ist quicklebendig." Selenskyj sprach kurz vor der Abstimmung des Kongresses über zusätzliche, knapp 45 Milliarden Dollar an neuer militärischer und wirtschaftlicher Soforthilfe für die Ukraine zu den Abgeordneten: "Ich danke Ihnen für die beiden Finanzpakete, die Sie uns bereits zur Verfügung gestellt haben, und für die Pakete, über die Sie vielleicht noch entscheiden werden. Ihr Geld ist keine Wohltätigkeit. Es ist eine Investition in die globale Sicherheit und Demokratie, mit der wir verantwortungsvoll umgehen werden." Vor seiner Rede hatte sich Selenskyj mit US-Präsident Joe Biden im Weißen Haus getroffen. Selenskyj bedankte sich bei Biden, dem US-Kongress und den Amerikanern für ihre Unterstützung seit dem Einmarsch Russlands in sein Land Ende Februar. Die von den USA gelieferten Raketensysteme hätten sich bei der Rückeroberung besetzter Gebiete als entscheidend erwiesen, sagte Selenskyj. Biden versprach, die Luftverteidigung der Ukraine weiter zu stärken. Die USA werde der Ukraine eine Patriot-Raketenbatterie zur Verfügung sellen und ihre Streitkräfte darin schulen, diese präzise einzusetzen. Das Patriot-System gilt als eines der fortschrittlichsten US-Luftabwehrsysteme und bietet Schutz vor Flugzeugen, Marschflugkörpern und ballistischen Raketen.
Wolodymyr Selenskyjs erste Auslandsreise seit Russlands Einmarsch führt den ukrainischen Präsidenten zum wichtigsten Verbündeten. Er dankt den USA und versichert, dass sich sein Land "niemals ergeben" werde.

Es ist nicht weniger als ein Heldenempfang im US-Kongress – für das Oberhaupt eines anderen Landes. Zwei Minuten und 19 Sekunden feiern Abgeordnete beider Parlamentskammern den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am Mittwoch (Ortszeit) mit Applaus vor einer Rede, die Geschichte schreiben dürfte. Es geht um Widerstand, Freiheit und den militärischen Sieg über Russland.

"Trotz aller Widrigkeiten und Untergangsszenarien ist die Ukraine nicht gefallen", ruft Selenskyj den Abgeordneten bei seiner ersten Auslandsreise in Kriegszeiten unter immer wieder aufbrandendem Jubel entgegen. "Die russische Tyrannei hat die Kontrolle über uns verloren". Auch heute tritt er – ganz Kriegspräsident – in einem olivgrünen Militärpullover mit dem Emblem des Oberbefehlshabers auf. Er macht klar, dass er mehr Waffen braucht, während sich eine neue Phase im bald einjährigen Ukraine-Krieg abzeichnet. Sein Land sei für alle Unterstützung dankbar, aber: "Ist es genug? Ehrlich gesagt, nicht wirklich." Um die russischen Truppen aus der Ukraine zu vertreiben, brauche seine Armee noch mehr Waffen.

Selenskyjs Besuch kommt zu entscheidender Zeit

Seit Selenskyjs letzter Reise nach Washington sind keine anderthalb Jahre vergangen – aber für den ukrainischen Präsidenten dürfte es sich wie ein halbes Leben anfühlen. Im Sommer 2021 war er zuletzt hier, damals noch schick im Anzug. Es ging bei dem Treffen mit US-Präsident Joe Biden auch um die Furcht vor einem russischen Angriff. Die Befürchtungen von damals haben sich bewahrheitet.

Der jüngste Besuch Selenskyjs bei seinem wichtigsten Unterstützer kurz vor Weihnachten kommt zu einer entscheidenden Zeit. Mit der Aufrüstung beider Seiten könnte es im bald einjährigen Krieg für die ukrainischen Streitkräfte schwieriger werden, im Osten ihres Landes weiter gegen die russischen Soldaten vorzurücken. Diplomaten sagten zuletzt aber, sie erwarteten eine ukrainische Offensive im Winter.

Selenskyj, der kürzlich vom "Time"-Magazin zur "Person of the Year" gewählt wurde, steht dabei symbolisch für den Kampf der Ukrainer um ihre Freiheit. In den vergangenen zehn Monaten schafften die Streitkräfte es, die zuvor übermächtig erscheinende russische Armee nach ihrem Einmarsch zunächst bei Kiew und dann im Osten des Landes zurückzuschlagen. Ohne die Amerikaner aber, das betont Selenskyj im Weißen Haus neben Präsident Biden, wäre dies unmöglich gewesen.

Doch vor dem Kongress macht Selenskyj klar, dass es sich bei den knapp 22 Milliarden Dollar an US-Militärhilfe nicht um Almosen handle. Kiew sei das Bollwerk gegen Russland – es sei nur eine Frage der Zeit bis Russland auch Verbündete der USA angreife, warnte der Ukrainer. "Euer Geld ist keine Wohltätigkeit, sondern eine Investition in die weltweite Sicherheit und in die Demokratie, mit der wir auf verantwortungsvollste Weise umgehen werden", rief er dem hohen Haus zu. Waffen, Training und Geheimdienstinformationen stärkten Selenskyjs Kämpfer auf allen Ebenen. Sie sind weiter angewiesen auf die US-Hilfe. Vor allem deshalb ist der ukrainische Präsident erstmals seit Kriegsbeginn ins Ausland geflogen.

Selenskyj wird das Zitat zugeschrieben, er "brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit". Das war zu Beginn des Krieges, als die USA ihn aus Kiew in Sicherheit bringen wollten, der 44-Jährige sich aber weigerte und den Widerstand antrieb. Zehn Monate später wird er dafür auch in den USA als Held gefeiert – und für die Visite in Washington nahm er dann tatsächlich eine US-Regierungsmaschine.

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Im Licht der veränderten Machtverhältnisse nach den Zwischenwahlen ist seine Rede vor den Abgeordneten besonders wichtig. Dort werden die Republikaner bald mehr Macht haben – auch ihre Unterstützung braucht der ehemalige Schauspieler in den kommenden Monaten und vielleicht Jahren. Bei der Rede am Mittwochabend, in der Selenskyj das Schicksal der Ukrainer historisch immer wieder mit dem der Amerikaner vergleicht, scheinen die Ränge der Republikaner dabei etwas leerer als die der Demokraten.

Biden gibt sich als felsenfester Verbündeter

Von seinem Washington-Besuch aber wird Selenskyj mit großen amerikanischen Zusagen zurückkommen: Die USA wollen als Teil eines neuen Militärhilfe-Paketes in Höhe von 1,85 Milliarden US-Dollar Patriot-Luftabwehrsysteme in die Ukraine schicken. Das könnte auch den Druck auf Staaten wie Deutschland erhöhen, bei den Waffenlieferungen aufzustocken.

Zudem gibt sich Biden, der Selenskyj zur Begrüßung noch väterlich die Schulter getätschelt hatte, als felsenfester Verbündeter ohne Vorbedingungen: "Sie werden niemals alleine dastehen", sicherte er zu. "Das amerikanische Volk hat Sie bei jedem Schritt begleitet, und wir werden an Ihrer Seite bleiben, so lange es nötig ist."

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Aus russischer Sicht verschärft sich die Lage im Krieg durch die Lieferung der Patriots an die Ukraine deutlich. Schon lange sieht Kremlchef Wladimir Putin seine Invasion in die Ukraine auch als einen Krieg mit dem Westen und die Waffensysteme der Nato-Staaten. Der "kollektive Westen" habe es auf eine Vernichtung Russlands abgesehen und nutze die Ukraine als Instrument, behauptete er mehrfach.

Wegen der Patriot-Lieferung befürchtet Moskau, dass die Angriffe von ukrainischer Seite auf russisches Staatsgebiet durch diese Waffen mit höherer Reichweite noch einmal zunehmen. Russland hatte den USA zuletzt wiederholt vorgeworfen, inzwischen selbst Kriegspartei zu sein. Auch die Patriots würden deshalb nun zu "legitimen" Zielen für die russischen Streitkräfte.

Putin hatte nur kurz vor Selenkyjs Auftritten in Washington bei einer großen Sitzung im Verteidigungsministerium am Mittwoch mit Nachdruck erklärt, dass er den Krieg um jeden Preis gewinnen will. Dazu soll die Armee besser ausgestattet und die Zahl der Soldaten erhöht werden. Dafür gebe es keine finanziellen Grenzen, betonte er. Moskau und Kiew wollen kurz vor dem Jahreswechsel noch einmal Stärke zeigen und setzen dabei auf große Bühnen.

Vor allem aber nutzte Putin die Versammlung, um einmal mehr auf die Nuklearwaffen der Atommacht hinzuweisen. So sollten etwa bald die neuen, mit mehreren Atomsprengköpfen bestückbaren Interkontinentalraketen vom Typ Sarmat in Dienst gestellt werden, sagte der 70-Jährige. Die annektierten ukrainischen Gebiete werde Russland unter allen Umständen "verteidigen".

Auf Frieden stehen die Zeichen in Washington und Moskau definitiv nicht – auch wenn Selenskyj einen globalen Gipfel in Aussicht stellt. Er betont aber, es werde "keine Kompromisse" auf dem Weg zum Frieden geben, wie brutal die russischen Angriffe auch werden sollten. "Wir werden Weihnachten feiern", schließt er seine Rede vor dem Kongress, "auch wenn es keinen Strom gibt. Das Licht unseres Glaubens an uns selbst wird nicht erlöschen."

mad / Benno Schwinghammer, Julia Naue, Ulf Mauder, Günther Chalupa, DPA