Moskau dürfte um die Symbolik von Mariupol gewusst haben, der Bedeutung der Hafenstadt am Asowschen Meer, die weit über geostrategische Überlegungen hinausgeht.
Die ukrainischen Streitkräfte leisteten wochenlang erbitterten Widerstand, die Zivilbevölkerung ebenso, trotzten der Belagerung, dem pausenlosen Beschuss und Bombardement durch Russland, das sein Vorgehen im Verlauf des Krieges immer weiter brutalisierte. Doch der Widerstand? Zwecklos. Das zumindest dürfte die Schreckensbotschaft gewesen sein, die Moskau aus Mariupol in den Rest des Landes senden wollte.
Verwundet und erschöpft: Eindrücke aus dem belagerten Asow-Stahlwerk in Mariupol

Am Freitag fand der Schrecken ein Ende, zumindest vorerst, sofern sich das überhaupt sagen lässt. Die letzten Verteidiger von Mariupol gaben auf Befehl von Kiew ihren Widerstand auf, ließen sich mit gestreckten Waffen von den russischen Invasoren gefangen nehmen. Moskau teilte mit, alle hätten sich ergeben und würden versorgt. Fast 2500 ukrainische Kämpfer sollen nun in russischer Gefangenschaft sein.
Zwar bleibt Mariupol als Symbol des ukrainischen Widerstands uneinnehmbar, doch ist das Schicksal der Stadt und der Gefangenen ungewiss. Wie geht es nun weiter?
Einem Kriegsziel näher
Aus militärischer Sicht ändert die Eroberung praktisch kaum etwas an der gegenwärtigen Lage des Krieges, hielt Russland die Großstadt mit einst 500.000 Einwohnern schon seit Anfang März in Geiselhaft, wohl aber am weiteren Verlauf des Feldzugs.
Der beharrliche Widerstand hat lange dafür gesorgt, dass nach ukrainischen Angaben bis zu 20.000 russische Soldaten gebunden wurden. Diese könnten für die stockende Offensive in Richtung Slowjansk oder auch den sich abzeichnenden Kessel bei Sjewjerodonezk nun das entscheidende Übergewicht und Russland einem Kriegsziel näher bringen: die Eroberung der gesamten Ostukraine.
Die Militärführung in Kiew geht davon aus, dass die prorussischen Kräfte mit Hilfe Moskaus nun ihren Vormarsch in den von Russland anerkannten Separatisten-Republiken Luhansk und Donzek verstärken, um den gesamten Donbass komplett der ukrainischen Kontrolle zu entreißen. Russland geht es dort offenkundig auch um eine feste Landverbindung zu der schon 2014 annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim.
Kommt es zu Schauprozessen?
Der Fall von Mariupol könnte auch auf ein anderes russisches Kriegsziel einzahlen: der "Entnazifizierung" der Ukraine und "Befreiung" eines angeblich von "Nazis" regierten Landes. Ein Propagandamärchen, das der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj schon vor dem Einmarsch als solches entlarvte. Doch macht dieser Umstand das Schicksal der nunmehr von Russland gefangenen Verteidiger von Mariupol so ungewiss.
Wie Siegestrophäen wurden sie vom russischen Verteidigungsministerium in einem Video vor der Kulisse des Stahlwerks Asovstal vorgeführt. Russlands Präsident Wladimir Putin sicherte zwar zu, sie blieben am Leben, wenn sie sich ergeben. Selenskyj hofft deshalb nun auf einen Gefangenenaustausch, wie es ihn in der Vergangenheit immer wieder einmal gegeben hat. Aber viele russische Politiker sind dagegen, forderten Prozesse zur Verurteilung der "Nazi-Verbrecher".
Aus dem Stahlwerk sind nach Moskauer Angaben fast 2500 ukrainische Kämpfer in russische Gefangenschaft gekommen. Russland bezeichnet sie als stramme Neonazis, die selbst Kriegsverbrechen begangen hätten. Eine Verurteilung könnte daher auf das russische Narrativ der "Entnazifizierung" der Ukraine einzahlen.
Der Militärexperte Carlo Masala rechnet daher nicht mit einem Gefangenenaustausch. Zumindest ein Teil der Männer werde voraussichtlich zu Propagandazwecken missbraucht werden, sagte der Politikprofessor der Bundeswehruniversität München am Freitag dem stern. "(...) man wird ihnen vielleicht den Prozess machen, sie foltern, sie vor die Fernsehkamera zerren," erwartet Masala.
Er verwies darauf, dass die Soldaten dem "Asow"-Bataillon angehört hätten und damit aus "russischer Perspektive die Nazis per se" seien. Erpresste Geständnisse der Gefangenen könnten genutzt werden, um "letzten Endes der russischen Bevölkerung zu suggerieren, dass dieser Staat – die Ukraine – ein Nazi-Staat ist. Und damit die Legitimation weiterhin aufrechterhalten für die Operation der russischen Föderation."
Die russischen Medien nutzten jedenfalls den Moment, als die letzten Männer und Frauen das Stahlwerk verließen, um sie erneut als "Neonazis" zu brandmarken: Sie mussten sich vor Kameras ausziehen, Tätowierungen waren zu sehen, Totenköpfe, Keltenkreuze und ein Hakenkreuz sowie immer wieder eine "schwarze Sonne", angeblich das Erkennungssymbol der Nationalisten.
Im Falle einer Anklage wegen Kriegsverbrechen droht den Gefangenen in dem von prorussischen Separatisten kontrollierten Donezker Gebiet, wo Mariupol liegt, die Todesstrafe.

Bundesjustizminister Marco Buschmann äußerte sich daher besorgt über die Kriegsgefangenen von Mariupol. "Die massiven Verstöße Russlands gegen das Völkerrecht sind völlig inakzeptabel – sie erfüllen uns aber auch mit großer Sorge mit Blick auf die Bevölkerung der Ukraine und die nun in Gefangenschaft geratenen Soldaten", sagte der FDP-Politiker "Rheinischen Post" am Montag. "Der Krieg ist eine blutige Bestie, aber kein regelfreier Zustand", mahnte der Minister.
Aus Sicht des CDU-Außenexperten Michael Gahler besteht zudem eine Gefahr von Schauprozessen, obwohl Russland kein Recht habe, die Gefangenen anders zu behandeln als andere ukrainische Kriegsgefangenen. "Die Beteiligten müssen von uns registriert und im Fall des Falles nach dem Weltrechtsprinzip auch schon in Abwesenheit angeklagt werden", forderte Gahler.
Mariupol, ein "Zentrum für Tourismus und Freizeit"
Wie es für die Stadt Mariupol weitergeht, ist unklar. "Die Kanalisation funktioniert nicht. Es leben noch 100.000 Menschen in der Stadt und das ist ein Problem", wurde der noch Mariupol lebende Bürgermeister Wadim Boitschenko von "Tagesschau.de" zitiert. "Unsere Ärzte beobachten, dass das zu einem Problem werden kann, sowohl für die Umwelt als auch wegen Infektionskrankheiten. Auch die UN hat festgestellt, dass es deswegen zu Ausbrüchen von Cholera oder anderen Krankheiten wie Ruhr kommen kann."
Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs hat der "Feind" bereits mit der Räumung von Minen begonnen, um den Hafen wieder funktionstüchtig zu machen. Berichten zufolge will Moskau den einst wichtigen Wirtschaftsstandort Mariupol wieder aufbauen. So habe Denis Pushilin, der zum Leiter der Volksrepublik Donezk ernannt wurde, angekündigt, Mariupol zu einer "Erholungsstadt" umbauen zu wollen.
Das "Institute for the Study of War" zitierte ihn mit den Worten, die Stadt in ein "Zentrum für Tourismus und Freizeit" umzugestalten. So lautet jedenfalls der angebliche Plan. Die Stadt liegt nach dem wochenlangen Beschuss durch russische Truppen in Trümmern. Pushilin habe demnach eingeräumt, dass 60 Prozent der Gebäude in Mariupol bis zu einem Punkt zerstört wurden, dass sie nicht wieder aufgebaut werden könnten.
Wie "Tagesschau.de" berichtet, errichten die neuen Machthaber Denkmäler, darunter eine Allee aus Tannen, um derjenigen zu gedenken, die aus russischer Sicht bei der "Befreiung" der Stadt gestorben sind. Staatsmedien zeigten Bilder, auf denen die Besatzer frische Lebensmittel an die Menschen vor Ort verteilten. In Mariupol wird aufgeräumt, das soll offenkundig suggeriert werden. Moskau dürfte um die Symbolik wissen.
Quellen: Deutschlandfunk, "Jüdische Allgemeine", "Rheinische Post", "Tagesschau.de", Redaktionsnetzwerk Deutschland, "Institute for the Study of War", mit Material der Nachrichtenagenturen DPA und AFP