CIA und MI6 Schützenhilfe aus dem Halbschatten: Welche Rolle ausländische Geheimdienste im Ukraine-Krieg spielen

US-Präsident Joe Biden schüttelt dem CIA-Direktor William Burns die Hand - es geht um den Ukraine-Krieg
"Sicherstellen, dass Putin in der Ukraine scheitert": CIA-Direktor William Burns (rechts) schüttelt US-Präsident Joe Biden die Hand
© Susan Walsh / AP / DPA
Als US-Geheimdienste Monate vor Kriegsbeginn eben jenen voraussagten, taten viele das als Panikmache ab – auch Präsident Selenskyj. Inzwischen ist klar: Die Ukraine ist nicht nur auf Waffen aus dem Westen, sondern auch auf Informationen angewiesen.

Dezember 2021: Seit Anfang des Monats zitieren US-Medien aus Geheimdienstberichten, die eine russische Militäroffensive in der Ukraine für Anfang des kommenden Jahres vorhersagen. Die Zeitung "Politico" beruft sich auf einen anonymen Beamten der Biden-Regierung, laut dem bereits Zehntausende russische Soldaten an strategisch wichtigen Grenzpunkten stationiert seien. Während Medien (auch der stern) die Truppenbewegungen meist als zwar beunruhigendes, aber letzten Endes wohl leeres "Säbelrasseln" interpretieren, sind sich die US-Geheimdienste sicher: Putin bereitet eine Invasion vor. "Ich würde die Risikobereitschaft von Präsident Putin in Bezug auf die Ukraine niemals unterschätzen", sagt CIA-Direktor William Burns auf einer Veranstaltung des "Wall Street Jorunal".

Anfang 2022: Der Ukraine-"Konflikt" spitzt sich zu. Geheimdienste veröffentlichen weiter Berichte über russische Truppenbewegungen und Manipulationsoperationen – die Rede ist von gefälschten Videos und Cyberangriffen. Das Ziel sei, einen Vorwand für den bevorstehenden Angriff zu schaffen. "Die Warnungen der Biden-Administration vor einer russischen Invasion in der Ukraine wirken mittlerweile so, als würde der Wetterkanal einen Wirbelsturm verfolgen", schreibt Anthony Faiola, Kolumnist der "Washington Post" am 11. Februar.

Einen Monat zuvor hatte das Weiße Haus erklärt, dass die Geheimdienste einen Überfall auf die Ukraine innerhalb der kommenden 30 Tage für realistisch erachten. Sie sollten Recht behalten.

MI6 und CIA im Ukraine-Krieg: unerlässliche Hilfe aus der Vogelperspektive

Auch heute, lange nachdem aus Säbelrasseln Zustechen wurde, senden die Geheimdienste, unentwegt weiter. "Die Entscheidung von Präsident Biden, einige unserer Geheimnisse sehr sorgfältig und selektiv zu veröffentlichen, hat in den letzten sechs Monaten eine sehr effektive Rolle gespielt", zitiert die US-Vereinigung AFCEA, CIA-Direktor William Burns.

Die US-Geheimdienste stehen in intensivem Austausch mit Kiew und versorgen die Verteidiger mit strategisch wertvollen Satelliten- und Drohnendaten, anhand derer russische Truppenbewegungen vorausgesagt und feindliche Stellungen präzise bestimmt werden können.

Ohne diesen "Adlerblick" wäre die Ukraine blind gegenüber den schnellen Truppenbewegungen Russlands gewesen, insbesondere in den ersten Kriegswochen. "Von Anfang an sind wir beim Austausch strategischer und verwertbarer Informationen mit der Ukraine ziemlich weit gegangen", zitierte der Sender "NBC News" im April einen US-Beamten. Wertvolle Informationen zur Bekämpfung russischer Stellungen würden "in Echtzeit" ausgetauscht, so damals ein ehemaliger hochrangiger Geheimdienstmitarbeiter.

Inzwischen laufe die Kommunikation mit den US-Geheimdiensten über ein Zentrum in Deutschland, über das nur wenig bekannt sei, erklärt Aufklärungsexperte Greg Austin vom International Institute for Strategic Studies in Singapur dem "Spiegel".

Auch der MI6 gilt als enger Verbündeter Kiews. Die Daten des britischen Geheimdienstes seien weniger sensibel als die seines US-Pendants, so Austin weiter. Sie speisten sich in der Regel aus frei zugänglichen Quellen, wie etwa öffentlichen Satellitenaufnahmen. Dennoch liefert London dem ukrainischen Generalstab wichtige Hinweise auf Schwachstellen an der russischen Front, Nachschublieferungen und Verstärkungen.

Simulation Blitzoffensive

Welche Bedeutung dieser Rege Austausch zwischen Washington, London und Kiew hat, zeigte sich zuletzt bei der ukrainischen Blitzoffensive im September (der stern berichtete). Diese "größte Gegenoffensive seit dem Zweiten Weltkrieg", wie John Spencer vom Modern War Institute der US-Militärakademie in Westpoint die Rückeroberung zahlreicher Gebiete im Nordosten des Landes nannte, wäre ohne Zutun der ausländischen Geheimdienste nicht möglich gewesen.

Dabei habe Präsident Selenskyj seinen Generalstab ursprünglich angewiesen, Pläne für eine große Offensive im Süden zu erarbeiten, berichtet die "New York Times". Die letztlich bahnbrechende Entscheidung, die militärischen Anstrengungen aufzuteilen und sich auf die Region Charkiw im Nordosten, statt auf den eigentlich strategisch wichtigeren Süden zu konzentrieren, habe sich nicht zuletzt auf sorgfältige Analysen der britischen und amerikanischen Geheimdienste gestützt. Die sollen im Vorfeld gemeinsam mit ihren ukrainischen Kollegen verschiedene Angriffsszenarien simuliert haben. Auf deren Grundlage habe sich Kiew am Ende für den Vormarsch im Nordosten entschieden. "Wir haben diese Ratschläge gegeben, und die Ukrainer haben sie dann verinnerlicht und ihre eigene Entscheidung getroffen", zitiert die US-Zeitung Colin Kahl, einen engen Berater von US-Präsident Joe Biden.

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Und so rückten ukrainische Verbände zeitgleich im Süden vor – nur eben in weitaus kleinerem Umfang. "Es handelte sich um eine große spezielle Desinformationsoperation", sagte der Presseoffizier der ukrainischen Spezialkräfte, Taras Berezovets, dem britischen "Guardian". "In der Zwischenzeit wurden [unsere] Jungs in Charkiw mit den besten westlichen Waffen, vor allem amerikanischen, ausgestattet", so der Offizier. Als der eigentliche Vormarsch dann stattdessen im Nordosten begann, habe man die Invasoren völlig überrumpelt. "Die Russen hatten keine Ahnung, was vor sich ging."

Die Deklassifizierung des Geheimen: ein Präzedenzfall für die Arbeit der Geheimdienste

Doch arbeiten die Geheimdienste vielmehr aus dem Halbschatten – sie teilen Informationen nicht nur mit ihren ukrainischen Kollegen, sondern auch mit der Weltöffentlichkeit. Das britische Verteidigungsministerium beispielsweise veröffentlicht via Twitter fast täglich sogenannte "Intelligence Updates", in denen London auf Grundlage von Geheimmaterial Truppenbewegungen, Verluste, und potenzielle Kriegsverbrechen offenlegt – der Spionagenewsletter für Zuhause sozusagen. Diese Posts enthalten allerdings nur einen Bruchteil der Informationen, die letztlich in Kiew landen. "Ich nehme an, dass die Folien beim Erstellen der Morgen-Briefings für das Ministerium entstehen. Dann entfernt jemand die wirklich geheimen Informationen und veröffentlicht den Rest", sagt auch Jeffrey Michaels, Experte für Sicherheits- und Geheimdienstfragen vom Institut Barcelona d'Estudis Internacionals, gegenüber der "Tagesschau". Diese Analysen, so Michaels weiter, seien zwar in der Regel nicht besonders aktuell und denen einiger Militärexperten sogar teils weit unterlegen. Sie erfüllen dennoch ihren Zweck: Sie stärken das Vertrauen in die Geheimdienste und dienen als Gegenpol zur russischen Propaganda.

Tatsächlich habe der Ukraine-Krieg, da sind sich die Sicherheitsexperten Huw Dylan und Thomas Maguire vom Londoner King's College sicher, die Praktiken der Geheimdienste für immer verändert und "wahrscheinlich einen Präzedenzfall für diesen offeneren Ansatz bei der Weitergabe von Geheimnissen geschaffen". Auch der Leiter des britischen MI6, Richard Moore, sagte in einem Interview, dass sein Dienst "offener sein muss, um geheim zu bleiben". Er ist der erste Geheimdienstoffizier, der Twitter nutzt.

Putin in seinem eigenen Spiel schlagen

Dass Regierungen mit prekären Informationen an die Öffentlichkeit gehen, ist an sich kein Novum. Das Ausmaß dieser "Transparenz" ist es sehr wohl. Es ist ein Informationskrieg auf neuem Niveau. Die westlichen Geheimdienste haben "Russland die Initiative im Informationsraum verweigert", heißt es in einem Beitrag des britischen Thinktanks "Agora". Der Westen habe gezeigt, "dass man Putin in seinem eigenen Spiel schlagen kann". Russland, einst Meister der sogenannten "hybriden Kriegsführung", zieht – wohl zur eigenen Überraschung – den Kürzeren. Die Vorteile dieser Taktik der Offenherzigkeit liegen auf der Hand: Es geht darum, Kremlpropaganda und Fakenews zu widerlegen, die massiven Sanktionen zu rechtfertigen und der russischen Militärführung den Überraschungsvorteil zu nehmen.

Doch birgt das auch Gefahren.

Jedes Mal, wenn die USA oder Großbritannien Geheimdienstinformationen veröffentlichten, gehen sie ein Risiko ein. Es eröffnet dem Kreml die Möglichkeiten, den Informationsursprung nachzuvollziehen und die entsprechenden Sicherheitslücken zuschließen – was gegebenenfalls eine Bedrohung für das Leben von Informanten darstellt. Oder aber, was die gefährlichere Option wäre: Moskau könnte sich entschließen, die Lecks bewusst nutzen, um Falschinformationen zu streuen.

Zudem müssen die mit der Öffentlichkeit geteilten Informationen zwar präzise, aber eben nicht so präzise sein, dass die Fehlertoleranz abhanden kommt. Sollten Prognosen nicht sich am Ende als falsch erweisen, so schwächt untergräbt dies das Vertrauen der Öffentlichkeit gegenüber den Geheimdiensten – bestes Beispiel: das berüchtigte September-Dossier des britischen Geheimdienstes aus dem Jahr 2002, laut der der Irak angeblich über Massenvernichtungswaffen verfügte.

Bundesnachrichtendienst: Hilfe zweiter Klasse?

Der Militärexperte Gustav Gressel ist der Ansicht, dass die bisherige Zusammenarbeit der Ukrainer mit den Amerikanern und Briten verdeutlicht, wie sehr die kontinentaleuropäischen Geheimdienste hinterherhinken. Schließlich hätten die nicht einmal die Berichte vom Jahresanfang, in denen Washington den unmittelbar bevorstehenden Überfall Russlands voraussagte, unabhängig überprüfen können: "Ihre Entscheidungsträger mussten sich eher auf ihren Instinkt als auf Beweise verlassen", glaubt Gressel.

Hinzu käme, dass – im Gegensatz zu Briten und Amerikanern – die EU vor dem Krieg gezögert habe, mit den ukrainischen Geheimdiensten zu kooperieren – aus Angst davor, ihre Daten könnten in die falschen Hände gelangen. Das läge daran, dass sich die EU fast krampfhaft auf den als korrupt verschrienen ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU eingeschossen hätte. Denn der sei "ein zentrales Thema der allgemeinen Bemühungen um eine Reform der Rechtsstaatlichkeit ist, die die EU seit 2014 unterstützt". "Nur eine Handvoll EU-Mitgliedstaaten hat bilaterale Beziehungen zum militärischen Nachrichtendienst [GUR] der Ukraine aufgebaut. Das ist bedauerlich – und nicht nur für die Ukraine", sagt Gressel.

Und ja, auch der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) unterstützt laut einem Bericht der "Zeit" die Ukraine mit Informationen. Demzufolge handelt es sich dabei um Aufklärungserkenntnisse, die aus Satellitenbildern, abgefangenen Funksprüchen oder Mobiltelefongesprächen stammten. Das ist allerdings kaum mit der Arbeit der britischen und amerikanischen Pendants zu vergleichen, zumal die Daten mit teils mehrtägiger Verzögerung Kiew erreichen. Deshalb seien sie nicht unmittelbar für die Planung und Steuerung tödlicher Angriffe nutzbar.

Nach Putin-Drohungen: Welche Folgen hätte ein russischer Atomwaffen-Einsatz? (Symbolbild einer Atombombe)
Nach Putin-Drohungen: Welche Folgen hätte ein russischer Atomwaffen-Einsatz? (Symbolbild einer Atombombe)
© McPHOTO/M. Gann/ / Picture Alliance
Nach Putin-Drohung: Welche Folgen hätte ein russischer Atomwaffen-Einsatz?

So sind die Ukrainer wohl oder übel weiterhin auf die Schützenhilfe der US-Geheimdienste, auf deren Hilfe aus dem Halbschatten angewiesen. Immerhin wollen die weiter liefern: "Obwohl das letzte Kapitel über Putins Krieg in der Ukraine noch nicht geschrieben ist, denke ich, dass die Geheimdienste weiterhin eine enorme Rolle bei der Unterstützung der Ukraine spielen werden .... und sicherstellen, dass Putin in der Ukraine scheitert", sagte der CIA-Direktor Burns am 8. September. Wenige Tage später begann bis dato erfolgreichste Phase im Freiheitskampf der Ukrainer.