Das Sterben nimmt vorerst kein Ende. Der ukrainische Chefunterhändler David Arachamija will erst Ende August Verhandlungen mit Moskau aufnehmen. Dann, nach einer womöglich erfolgreichen Gegenoffensive im Süden, werde Kiew in einer besseren Verhandlungsposition sein, so der Diplomat in einem Interview mit dem US-Sender "Voice of America". Die Botschaft im Subtext: "Wir sind noch nicht bereit, Eingeständnisse zu machen."
Was Kiew überhaupt als "Eingeständnisse" betrachtet, ist wohl die eigentliche Frage. Denn tatsächlich haben sich die ukrainischen Kriegsziele seit dem 24. Februar nicht geändert. Territoriale, wirtschaftliche und politische Souveränität – nicht weniger gilt es aus Kiewer Sicht zu verteidigen. Doch ist eine vollständige Rückeroberung des Staatsgebiets, inklusive der 2014 von Russland annektierten Krim, den von Separatisten kontrollierten Donbassrepubliken und den während des russischen Überfalls verlorenen Gebieten im Süden und Osten des Landes, Stand jetzt, kaum realistisch. Doch ist das die Marschrichtung, daran lässt Wolodymyr Selenskyj keinen Zweifel.
Wie wenig kompromissbereit der ukrainische Präsident in dieser Hinsicht ist, zeigte seine Reaktion auf die Worte von Ex-US-Außenminister Henry Kissinger auf dem Wirtschaftsforum im Mai in Davos. Der Meister der Realpolitik empfahl der Ukraine Land gegen Frieden zu tauschen. Russland solle die Krim und den Donbass erhalten, die Ukraine ihre Souveränität. Bei allem anderen "würde es nicht um die Freiheit der Ukraine gehen, sondern um einen neuen Krieg gegen Russland selbst", so Kissinger. Selenskyj bezichtigte den 99-Jährigen daraufhin der "Beschwichtigungspolitik", warf ihm gar vor, im falschen Jahrhundert zu leben.
Damit ist Selenskjs Verständnis vom Begriff "Eingeständnis" geklärt: ganz oder gar nicht.
Waffenlieferungen: Angst vor zu viel Solidarität
Dem Westen fällt es da schon deutlich schwerer, seine Träume zu formulieren. Schließlich zerbricht man sich schon seit Tag 1 des Krieges den Kopf über Tag 1 nach dem Krieg. Das liegt etwa daran, dass die Kämpfe in vier Monaten weit mehr Wendungen genommen haben als Experten hatten weissagen können. Zu Beginn ging man im Osten wie im Westen davon aus, dass Kiew in wenigen Tagen fallen würde. Als der russische Blitzsieg ausblieb, wuchs mit jedem weiteren Tag des erfolgreichen Überlebens zeitgleich auch das zarte Pflänzchen Hoffnung.
Monate später steht Europa vor einem Dilemma, wie der US-Politikwissenschaftler Andrew Michta im Magazin "Politico" schreibt. Während die russische Artillerie rund um die Uhr und offenbar zunehmend wahllos feuert, bräuchte Kiew schwere Waffen aus dem Westen, um den Aggressor zurückzuschlagen. Solange der Versand stockt, bliebe es ein unfairer Kampf mit vorhersehbarem Ende. Frankreich und Deutschland, so Michta, treibe die Angst um, das schwere Gerät könne den Spieß derart umdrehen, dass Kiew wortwörtlich über das Ziel hinausschießt und den Kampf in Richtung russischer Gebiete trägt.
Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen
– Bundeskanzler Olaf Scholz
Gefechte im Donbass und auf der Krim wiederum bergen die reelle Gefahr, dass Putin Rot sieht und auf einen gleichfarbigen Knopf drückt. "Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen", sind deshalb nicht ohne Grund die undeutlichsten deutlichen Worte, zu denen sich Bundeskanzler Olaf Scholz bislang hat hinreißen lassen. Was er ebenso gut hätte sagen könnten: "Russland darf nicht gewinnen, aber bitte auch nicht allzu sehr verlieren."
Natürlich ginge mit einer unabhängigen, westgewandten Ukraine auch für die USA ein geopolitischer Traum in Erfüllung. Wäre Moskau erst einmal zurechtgestutzt, könnte sich Washington endlich auf China konzentrieren, den wahren Gegner, glaubt Michta.
Weil wir wissen, dass Freiheit nicht umsonst ist
– US-Präsident Joe Biden
Als Präsident der USA werde Biden Kiew "weder privat noch öffentlich zu irgendwelchen territorialen Zugeständnissen drängen", schrieb Joe Biden in einem Gastbeitrag für die "New York Times" Anfang Juni (der stern berichtete). Dass Freiheit schließlich nicht umsonst sei, dafür bringe er volles Verständnis auf. Doch gelangen selbst Befürworter der US-Hilfen inzwischen vermehrt zu der Ansicht, dass die westliche Unterstützung das Leid der Bevölkerung nur verlängert. Das nach der Rückeroberung der Kiewer Vororte blühende Pflänzchen Hoffnung geht allem Anschein nach auch jenseits des Atlantiks ein.
Die russischen Panzerverluste

Womit wir wieder beim Anfang wären. Die Ukraine wehrt sich ungeachtet der schieren Übermacht weiterhin mit Klauen und Zähnen, der Westen stellt fleißig Schecks aus. So wird es weitergehen, bis eine Seite nachgibt. Und Putin wird es nicht tun. Für den Westen wäre die wohl komfortabelste Lösung, sollte sich Kiew dazu bereit erklären, den Donbass "abzuschreiben". Stand heute ist dies die Minimalbedingung für die Aufnahme ernsthafter Friedens- oder zumindest Waffenstillstandsverhandlungen. Allerdings, was den Begriff "Sieg" angeht, ist der Interpretationsspielraum in Brüssel ungleich weiter als in Kiew.
Klar ist jedoch: Dieser Krieg wird – in welcher Form auch immer – irgendwann enden. An dieser Stelle muss der Westen die Gespräche mit Russland aufnehmen. Sollte Putin sich bis dahin im Sattel der Macht gehalten haben (was sehr wahrscheinlich ist), wird der Westen aus ökonomischer und sicherheitspolitischer Sicht auf eine "Normalisierung" der Beziehung zu Russland angewiesen sein. Bereits jetzt haben die massiven Sanktionen Russland allzu tief in die weit offenen Arme Pekings getrieben. Das Ende des Krieges in der Ukraine bestimmt somit auch den Anfang einer vielleicht nicht neuen, aber veränderten Weltordnung.
Das "kleinere Übel" Putin?
"Die Kriegsziele der Ukraine sind ihre Entscheidung, aber der Westen ist stark involviert und sollte entscheiden, welche Kriegsziele er unterstützen wird ", schreibt Patrick Porter, Professor für Internationale Sicherheit an der Universität Birmingham, in einem Meinungsbeitrag für das britische Magazin "The Critic". Ob der EU-Kandidatenstatus oder die mit Pathos vorgebrachte Zusicherungen von Wiederaufbauhilfen: Die diplomatischen Solidaritätsbekundungen des Westens sind in erster Linie symbolischer Natur. Sollte es Putin am Ende gelingen, einen Großteil oder gar das gesamte ukrainische Territorium für sich zu beanspruchen, sind all diese Versprechen null und nichtig. Schließlich würde die EU nicht die Zeche für eine russisch annektierte Ukraine zahlen, geschweige denn den Klientelstaat in die Gemeinschaft aufnehmen.
Der Gedanke, dass ein Waffenstillstand Putin nicht gedemütigt zurücklassen dürfe, bestimmt seit Langem die politische Debatte. Für die Ukraine sind die Befindlichkeiten des Kremlchefs selbstredend nicht einmal zweitrangig – schließlich kämpft das Land in erster Linie nicht gegen Putin, sondern für seine Freiheit.
Im Gegensatz zu Realisten wie Kissinger fordern "Maximalisten", wie Porter sie nennt, einen ukrainischen Sieg ohne Kompromisse, sprich: eine vernichtende Niederlage der russischen Streitkräfte mit anschließendem Nato-Beitritt der Ukraine. Einige unter ihnen, wie die US-amerikanische Journalistin und Historikerin Anne Applebaum, fordern gar, die Demütigung und Absetzung Putins zum Kriegsziel auszurufen. Diese Vorstellung mag den Gerechtigkeitssinn befriedigen, birgt jedoch ungeahnte Risiken. Der Sturz des Zaren wäre schließlich keine Garantie für eine demokratische Nachfolgeregierung.
Vielmehr droht das Gegenteil: Aus einer Palastrevolution könnte ein womöglich noch weitaus martialischerer Staatschef hervorgehen. Ein Mangel an nationalistischen und imperialistischen Ideologen an der Kremlspitze besteht schon jetzt nicht. Diese Vorstellung ist es, was in Washington, Berlin und Co. für Gänsehaut sorgt. Dass Putin "das kleinere Übel" sein könnte, mag sich verständlicherweise in der Ukraine niemand vorstellen. Ein wirtschaftlich am Boden liegendes Russland würde jedoch zum Spielball antiwestlicher Akteure werden. Ein weiterer Grund für den Westen, einen "gesichtswahrenden" Ausweg aus dem Krieg herbeizusehnen.
Sollte die Ukraine sich einen langen Atem leisten und die russischen Streitkräfte nicht nur in Schach halten, sondern verdrängen, so Porter weiter, würde Kiew in einem Anflug der Euphorie sicherlich die Krim ins Auge fassen. Das wiederum würde das atomar bis an die Zähne bewaffnete Russland gefährlich in die Enge treiben – eine Horrorvorstellung für die Diplomaten des Westens.
Die Zeit wird knapp
"Der wahre Sieg der Ukraine liegt nicht auf dem Schlachtfeld, sondern in der Wiedergeburt nach dem Konflikt", ist sich hingegen Christopher Chivvis, ein ehemaliger US-Geheimdienstoffizier in einem Gastbeitrag für den britischen "Guardian" sicher. Angesichts der Tatsache, dass sich der Zermürbungskrieg zum Vorteil Russlands entwickle, müsse die Ukraine die Gelegenheit ergreifen, solange sie noch kann. So außergewöhnlich die Unterstützung auch sei, der Westen könne sie sich nicht ewig leisten. "Je länger sich der Krieg hinzieht, desto größer ist die Gefahr, dass die moralische Klarheit schwindet." In fünf Jahren gäbe es nichts wieder aufzubauen.
So makaber es klingt: Wenn sich der Staub legt, wollen und müssen alle Parteien noch stehen. Um aus dieser zu gleichen Teilen moralischen, diplomatischen und militärischen Zwickmühle zu entkommen, bedarf es einer sicherheitspolitischen Vorstellungskraft, an der es derzeit mangelt. Ein Waffenstillstand – wer auch immer dafür gedemütigt wird – ist zudem kein Garant für dauerhaften Frieden, wie die jüngste Vergangenheit auf blutigste Weise gezeigt hat.
Ein Ziel haben der Westen und die Ukraine zweifelsohne gemein: das Ende des Sterbens. Doch über die Kosten ist man sich uneins. Es ist ein moralisches und politisches Dilemma, und womöglich eine Entscheidung zwischen Frieden und Unabhängigkeit. Denn die Ukraine lebt und kämpft im Heute, der Westen im Morgen.
Quellen: "The Critic"; "Politico"; "The Guardian"