In der Türkei stehen sich Demonstranten und Polizei scheinbar unversöhnlich gegenüber. Die islamisch-konservative Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat damit gedroht, auch das Militär einzusetzen, um die Proteste zu beenden. Ein Aufruf von Schauspielern, Filmemachern und Autoren an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in Facebook, auf eine Ende der Gewalt hinzuwirken, hat großen Widerhall gefunden und wurde bereits von mehr als 9000 Menschen unterzeichnet.
"Bitte schauen Sie nicht zu", heißt es in dem offenen Brief, der seit Sonntag in dem sozialen Netzwerk steht. Merkel solle gemeinsam mit den europäischen Regierungschefs die türkische Regierung dazu bewegen, angesichts der seit zwei Wochen anhaltenden Proteste die Gewalt gegen die Bevölkerung zu beenden. Die Initiatoren laufen offenbar bei Merkel offene Türen ein. Die Sicherheitskräfte in Istanbul seien "viel zu hart vorgegangen". Dem Fernsehsender "RTL" sagte die Kanzlerin: "Das, was im Augenblick in der Türkei passiert, entspricht nicht unseren Vorstellungen von Freiheit der Demonstration, der Meinungsäußerung." Zu den Fernsehbildern von der Räumung des Gezi-Parks in Istanbul am Sonntag sagte sie: "Ich bin erschrocken, wie viele andere Menschen auch."
Auswärtiges Amt rät zur Vorsicht
Angesichts der Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten rät das Auswärtige Amt Türkei-Reisenden generell zu besonderer Vorsicht. Touristen werden gebeten, "sich von Demonstrationen und Menschenansammlungen fernzuhalten", heißt es in den aktualisierten Reise und Sicherheitshinweisen.
Seehofer gegen Vollmitgliedschaft der Türkei
Zu den Erstunterzeichnern gehören Film- und Theaterregisseure wie Fatih Akin, Dani Levy, René Pollesch, Sebastian Nübling und Lukas Langhoff. Die Schauspieler Sibel Kekilli, Jan Josef Liefers und Anna Loos haben sich ebenso angeschlossen wie der Schriftsteller Maxim Biller, der Dramatiker Moritz Rinke, der Präsident der Akademie der Künste, Klaus Staeck, der Kameramann Michael Ballhaus sowie die Autorin Hatice Akyün. Akin ("Gegen die Wand") rief zudem den türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül in einem offenen Brief auf, die Gewalt in seinem Land zu beenden. "Ich appelliere an Ihr Gewissen: Stoppen Sie diesen Irrsinn!"
Angesichts des brutalen Polizeieinsatzes ist die Diskussion um eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU wieder voll entbrannt. CSU-Chef Horst Seehofer sieht sich in seinem Nein zu einem EU-Beitritt bestätigt. "Ich kann nur für mich sprechen: Wir sind gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei", sagte Seehofer am Montag vor einer CSU-Vorstandssitzung in München auf die Frage, ob Kanzlerin Merkel jetzt deutliche Worte finden müsse. "Und ich glaube, die Bilder und Informationen, die wir in diesen Tagen haben, unterstützen dies noch einmal zusätzlich." Generalsekretär Alexander Dobrindt warf der Türkei einen Mangel an Demokratie vor, der nicht zu akzeptieren sei.
Gewerkschaften rufen zum Generalstreik auf
In der Türkei ist die Polizei Berichten zufolge auch in der Nacht zum Montag wieder gewaltsam gegen regierungskritische Demonstranten vorgegangen. In Ankara setzten die Sicherheitskräfte Wasserwerfer und Tränengas gegen Gegner der Regierung Erdogan ein, wie Aktivisten mitteilten. In Istanbul habe die Polizei Demonstranten gewaltsam daran gehindert, zum zentralen Taksim-Platz zu ziehen, hieß es. Auch sollen erstmals Erdogan-Anhänger Demonstranten attackiert habe. Zwei Gewerkschaftsverbände riefen aus Protest für Montag zu landesweiten Streiks auf.
Der türkische Innenminister Muammer Güler hat den Generalstreik als "illegal" bezeichnet. "Es gibt den Willen, die Menschen mit illegalen Aktionen wie Arbeitsniederlegungen und einem Streik auf die Straße zu holen", sagte Güler während einer Pressekonferenz in Ankara. Die Sicherheitskräfte würden "das nicht zulassen".
Hunderte Festnahmen allein in Instanbul
Bei den neuerlichen Protesten gegen die Regierung wurden am Sonntag in Istanbul und Ankara fast 600 Menschen festgenommen, wie Mitarbeiter der jeweiligen Anwaltskammern sagten, die nicht namentlich genannt werden wollten. Allein in Istanbul habe es etwa 460 Festnahmen gegeben. Nach Vernehmungen seien die Betroffenen entweder wieder freigekommen oder der Staatsanwaltschaft vorgeführt worden.
Die Zusammenstöße zwischen der Polizei und Demonstranten gingen in der Nacht in mehreren Stadtvierteln Istanbuls weiter. Aktivisten berichteten, die Polizei habe auch ein Krankenhaus in der Nähe des Taksim-Platzes mit einem Wasserwerfer angegriffen, nachdem sich Demonstranten dorthin geflüchtet hatten.
Aktivisten der Opposition berichteten im Internet, dass die Demonstranten auch von mit Knüppeln und Messern bewaffneten Männern angegriffen worden seien. Die Polizei habe nicht eingegriffen. Medienberichten zufolge attackierten Anhänger der Regierung in Istanbul auch ein Büro der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP). Dabei hätten sie Slogans für Erdogan gerufen.
Erdogan verunglimpft Demonstranten
Vor tausenden Anhängern hatte der Regierungschef zuvor die Protestbewegung als "Terroristen" und "Gesindel" verunglimpft. Ausländischen Medien warf er vor, ein Zerrbild der Türkei zu zeichnen. "Wer das (wahre) Bild der Türkei sehen möchte, (...) hier ist es", sagte Erdogan bei der Kundgebung seiner AKP. Die gewaltsame Räumung des Gezi-Parks am Samstagabend verteidigte er damit, dass der Platz nicht einer einzelnen Gruppe, sondern allen Bewohnern Istanbuls gehöre. "Die Stadtverwaltung hat den Platz gesäubert, pflanzt jetzt Blumen und begrünt ihn. Die wahren Umweltschützer sind jetzt am Werk."