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Flucht bei Nacht und Eiseskälte Mutmaßlicher Wagner-Soldat flieht nach Norwegen. Jetzt will er über die Söldnertruppe auspacken

Andrej Medwedew in einem Video, das im Dezember von Gulagu verbreitet wurde
Andrej Medwedew in einem Video, das im Dezember von Gulagu.net verbreitet wurde
© Gulagu.net / Telegram
Ein ehemaliger Kommandant der berüchtigten russischen Söldnertruppe Wagner ist nach Norwegen geflohen. Er beantragte dort Asyl – und will über die brutalen Methoden der Wagner-Gruppe berichten.

Im Schutz der Dunkelheit der Nacht und bei Eiseskälte flieht ein Mann aus Russland nach Norwegen. Er soll ein ehemaliger Kommandant bei der brutalen und berüchtigten russischen Söldnertruppe Wagner sein – und er hat Informationen über die Gruppe, die Kriegsverbrechen aufklären könnten.

In der Nacht zum Freitag wurde eine Person in Pasvik, südlich der Stadt Kirkenes, von der norwegischen Grenzpolizei festgenommen. So schreibt es die Polizei der Provinz Finnmark in einer Pressemitteilung.

Der Mann hat Asyl beantragt, sagte der Stabschef des Polizeibezirks Finnmark, Tarjei Sirma-Tellefsen. Der Geflüchtete soll ein Privathaus im Grenzgebiet aufgesucht und um Hilfe gebeten haben. Seine Festnahme sei "undramatisch" verlaufen.

Tarjei Sirma-Tellefsen, Stabschef des Polizeibezirks Finnmark
Tarjei Sirma-Tellefsen, Stabschef des Polizeibezirks Finnmark
© Terje Bendiksby / Imago Images

Wagner-Kommandant flieht nach Norwegen. Sein Name: Andrej Medwedew

"Wir wurden auch von russischen Grenzschutzbeamten über den Fund von Spuren informiert, die auf einen illegalen Grenzübertritt hindeuten könnten. Daraufhin wurde sofort eine Durchsuchung durch den Grenzschutz und die Polizei eingeleitet", sagte Sirma-Tellefsen. "Wir arbeiten jetzt daran, die Identität der Person zu bestätigen, und befragen den Mann."

Inzwischen steht die Identität des Mannes aus Russland fest: Mehrere norwegische Medien, darunter der öffentlich-rechtliche Rundfunk NRK und die Zeitung "VG", berichten, dass es sich bei dem Mann um Andrej Medwedew handelt, einen ehemaligen Kommandanten der berüchtigten Wagner-Gruppe aus Russland. Sein Anwalt Jens Bernhard Herstad bestätigte dies der "VG". "Ich kann bestätigen, dass er in der Nacht zum Freitag in Norwegen angekommen ist." Es gehe ihm den Umständen entsprechend gut.

Die Wagner-Gruppe ist eine private, paramilitärische Organisation, auch bekannt als "Putins Schattenarmee". Die Truppe ist Teil eines Firmennetzwerks rund um den Oligarchen Jewgeni Prigoschin, einem engen Vertrauten des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Der Gastro-Unternehmer Prigoschin ist auch als "Putins Koch" bekannt. Die Gruppe Wagner ist im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine aktiv und kämpft etwa im Osten des Landes. Die Söldnertruppe gilt als äußerst brutal; ihr werden Folter und Kriegsverbrechen vorgeworfen.

Medwedews Flucht aus Russland: Scheinwerfer, Hunde, Schüsse

In einem Video, das von der russischen Menschenrechtsorganisation Gulagu.net veröffentlicht wurde, schildert Medwedew seine Flucht. Er soll demnach mithilfe von Unterstützern in Murmansk in die russische Grenzstadt Nikel gelangt sein. Von dort aus soll er in einem weißen Bademantel über den Stacheldrahtzaun geklettert und über den zugefrorenen Fluss Pasvikelva gelaufen sein. Unabhängig überprüfen ließen sich diese Angaben bisher nicht.

Medwedew behauptet, er sei verfolgt worden. Er habe Scheinwerfer gesehen und Hunde hinter sich gehört. Auch Schüsse sollen abgefeuert worden sein.

"Ich drehte mich um und sah, dass Leute mit Taschenlampen in einer Entfernung von etwa 150 Metern in meine Richtung liefen. Ich rannte den Wald entlang. Ich hörte zwei Schüsse, Kugeln zischten vorbei. Ich zerbrach das Telefon und warf es in den Wald, dann rannte ich auf dem Eis in Richtung des Lichts der Häuser. Sie ließen den Hund frei, aber anscheinend hatte er sich irgendwo in einem Draht in einer Schneewehe verheddert", zitiert der "Barents Observer" aus dem Video von Gulagu.net.

Aussagen von Anwohnern an der Pasvikelva decken sich mit seinen Berichten. Sie berichteten dem Sender NRK, dass sie nachts viel Aktivität auf der russischen Seite der Grenze gesehen haben. "Schneemobile, Suchscheinwerfer und jede Menge Personal."

Medwedew beantragt politisches Asyl in Norwegen

Laut Gulagu.net verließ Medwedew die Wagner-Truppe, nachdem sein im Juli unterzeichneter Vier-Monats-Vertrag ausgelaufen war. Dieser sollte seinen Angaben nach aber verlängert werden. Offenbar war das ein Anlass, zu fliehen.

Das Überlaufen von Medwedew ist aufsehenerregend. Es sei das erste Mal seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine, dass ein ehemaliger Kommandeur einer Einheit der Wagner-Gruppe nach West-Europa geflohen sei, so Gulagu.net. Nach Angaben der Organisation wandte sich Medwedew Anfang Dezember 2022 an sie, um "außergerichtliche Repressalien" zu vermeiden. Im Dezember berichtete er in einem Interview mit der unabhängigen russischen Nachrichtenseite "The Insider" von Exekutionen von Wagner-Söldnern, die sich geweigert haben sollen, an Kämpfen teilzunehmen.

Andrej Medwedew befindet sich nach Informationen des Fernsehsenders TV2 inzwischen in der Hauptstadt Oslo. Asylbewerber aus Russland werden üblicherweise mit dem Flugzeug dorthin gebracht, schreibt der "Barents Observer".

"Er hat in Norwegen politisches Asyl beantragt. Das Asylverfahren läuft für ihn in gewohnter Weise. Zur Grundlage des Asylantrags möchte ich nichts sagen", sagte sein Rechtsanwalt Herstad dem NRK. Der Jurist wollte sich nicht zur möglichen Rolle Medwedews in der russischen Kriegsführung äußern.

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"Ich bin bereit, gegen die Wagner-Gruppe und Prigoschin auszusagen"

Der norwegische Inlandsgeheimdienst PST verfolgt den Fall aufmerksam. Der PST wurde kurz nach dem Vorfall informiert, sagte ein Kommunikationsberater des Nachrichtendienstes zu NRK. "Es wird für den PST selbstverständlich sein, den Fall zu verfolgen, um zu beurteilen, ob er in unseren Aufgabenbereich fällt."

Medwedew will über die Taten der Gruppe Wagner nicht schweigen. Er will über die Gräueltaten der Gruppe Wagner auspacken. Gulagu.net sagte er, er sei bereit, vor den norwegischen Behörden und in internationalen Strafverfahren darüber auszusagen, was er erlebt hat.  

"Ich bin bereit, gegen die Wagner-Gruppe und Prigoschin auszusagen. Natürlich bin ich das", sagte er im Interview mit Gulagu.net.

"Er erkannte sehr früh, dass er sich zu den falschen Bedingungen gemeldet hatte und dass im Krieg Dinge vor sich gingen, an denen er nicht teilnehmen konnte. Er wollte aufhören und erkannte, dass dies in der Realität unmöglich war. Er sah also keine andere Möglichkeit als zu fliehen", sagte Brynjulf ​​Risnes, der als Anwalt von Medwedew übernommen hat, am Sonntag der "VG".

"Klar, dass auch gegen ihn ermittelt wird"

Nach Risnes' Angaben hat Medwedew Informationen, die vermutlich von großer Bedeutung für die Dokumentation von Kriegsverbrechen in der Ukraine sein könnten. Seiner Ansicht nach dürften die Behörden in Norwegen und auch das internationale Strafgericht in Den Haag daran Interesse haben.

Das bedeute aber auch, dass Medwedew nicht zwingend ungeschoren davonkommt. "Es ist klar, dass auch gegen ihn ermittelt wird, ob er die Wahrheit sagt und ob er möglicherweise etwas Illegales getan hat. Er selbst glaubt eindeutig, dass er dies nicht getan hat – dass er nur Befehle ausgeführt und im Zusammenhang mit den Feindseligkeiten keinen Kontakt mit Zivilisten hatte", teilte Risnes mit.

Quellen: Polizei Finnmark, "VG", NRK, "The Barents Observer", Gulagu, TV2, "The Insider", "Dagbladet", Reservistenverband Deutschland

Anmerkung: Die Menschenrechtsorganisation heißt korrekt "Gulagu.net". Dies wurde angepasst. 

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