Was bleibt also festzuhalten? Nach China ist auch Indien auf Distanz zu Russlands Feldzug gegen die Ukraine gegangen. Präsident Wladimir Putin bekommt damit einen (zweiten) diplomatischen Dämpfer verpasst, der in einer Reihe von Rückschlägen für Russland der vergangenen Tage steht. Und einmal mehr stellt sich die Frage, wie der Kriegstreiber aus dem Kreml reagieren wird.
Aber eins nach dem anderen.
Indiens Premierminister Narendra Modi hat Putin am Freitag mitgeteilt, dass es keine Zeit für Krieg sei, wenngleich der russische Präsident mit einer erneuten Eskalation der Kampfhandlungen droht. Modi brachte seine Kritik bei einem Treffen mit dem russischen Präsidenten im Rahmen des SCO-Treffens, eine Art Gegen-G7-Gipfel, in Usbekistan an – nur einen Tag nachdem Putin eingeräumt hatte, dass der chinesische Staatschef Xi Jinping "Fragen und Sorgen" bezüglich des Krieges habe.
"Heute ist keine Ära des Kriegs", sagte Modi am Freitag zu Beginn des Treffens. Vielmehr solle der Fokus auf Themen wie Lebensmittel, Düngemittel und Treibstoffsicherheit gerichtet werden. "Heute werden wir Gelegenheit haben zu diskutieren, wie wir auf dem Weg des Friedens vorankommen können."
Die sachte Kritik hebt sich zwar lediglich aus einer Reihe an Herzlichkeiten ab, die Indiens Premierminister und Russlands Präsident austauschten. Dennoch bekommt Putin die leise Protestnote in einer Phase seines Krieges zu hören, die sich alles andere als optimal für den Kremlherrscher darstellt. Zuletzt musste sich die russische Armee infolge einer Gegenoffensive aus zahlreichen umkämpften Gebieten der Ukraine zurückziehen, während die Kritik an Putins Kriegsführung in Russland lauter wird.
Wird Russland den Krieg weiter eskalieren?
Trotz der jüngsten Rückschläge will der russische Präsident den Feldzug gegen die Ukraine trotz der fortsetzen und gibt sich betont gelassen. "Wir haben es nicht eilig", sagte Putin am Freitag in einer Pressekonferenz nach dem Gipfel-Treffen. Er bezeichnete die jüngsten Angriffe auf Kraftwerke und einen Staudamm in der Ukraine als "Warnungen" und drohte "Vergeltung" an.
Gleichzeitig beteuerte Putin – möglicherweise um die Besorgnis Indiens und Chinas zu beschwichtigen –, zu Gesprächen mit der Ukraine bereit zu sein. Bedauerlicherweise lehne die ukrainische Seite den Verhandlungsprozess ab, behauptete Putin und schob damit wiederholt der Ukraine die Schuld zu.
Was von den russischen Besatzern übrigblieb – die Gebiete im Nordosten nach ihrer Befreiung

Darüber hinaus deutete er an, den Krieg nicht auf die gesamte Ukraine ausweiten zu wollen. Noch immer sei die vermeintliche "Befreiung" der gesamten ostukrainischen Donbass-Region das wichtigste Kriegsziel Russlands. Von einer "Demilitarisierung" und "Denazifizierung" der Ukraine, mit der Putin seine völkerrechtswidrige Invasion im Februar rechtfertigte, sprach er am Freitag nicht.
Dennoch gehen Beobachter davon aus, dass Putin angesichts der jüngsten Niederlagen und dem wachsenden innenpolitischen Druck praktisch keine andere Wahl hat, als eine deutliche Eskalation der Kampfhandlungen anzuordnen.
Der Erfolgsdruck wächst, meint etwa Alexei Venediktov. Der langjährige Redakteur des liberalen und kremlkritischen Radiosenders Echo Moskwy, der im März geschlossen wurde, spricht von einem "Kampf um Ressourcen" – und die wichtigste Ressource sei Zeit. Dauere der Krieg noch länger an, ohne einen Sieg in Sicht, könnten die Russen kriegsmüde werden. "Es ist unklar, wer zuerst zusammenbricht – Putin oder alle anderen", sagte Venediktov zur "Financial Times".
Putin ist auf das Wohlwollen Indiens und Chinas angewiesen
Dass China und Indien nun auf Distanz von Russlands Krieg gehen, muss Putin wohl keine (großen) Sorgen bereiten. Bemerkenswert bleiben die Wortmeldungen dennoch. Beide Länder tragen dazu bei, dass die russische Wirtschaft angesichts westlicher Sanktionen weiterläuft.
Indien unterhält enge Handelsbeziehungen mit Russland, hat auch deswegen eine neutrale Haltung mit Blick auf den Krieg eingenommen und trägt die westlichen Sanktionen nicht mit. Zugleich wirbt das Land für eine Konfliktlösung durch Dialog. Zuletzt kaufte Indien etwa mehr verhältnismäßig günstiges Öl aus Russland. Auch bei der militärischen Ausrüstung und bei Ersatzteilen ist Neu-Delhi stark auf Moskau angewiesen. Gleichzeitig will Indiens Premierminister die Beziehungen zum Westen vertiefen, die er als Verbündete in der Rivalität mit China sieht (mehr dazu lesen Sie hier).
Auch deswegen dürfte Putin die Besorgnis Modis ("Heute ist keine Ära des Kriegs") adressiert haben: "Ich kenne Ihre Position zu dem Konflikt in der Ukraine und Ihre Bedenken, die Sie ständig zum Ausdruck bringen", sagte Putin an den indischen Premierminister gerichtet. "Wir tun alles dafür, um das so schnell wie möglich zu beenden." Und warf der Ukraine vor, nicht an einer Verhandlungslösung interessiert zu sein.
Auch Chinas Wohlwollen liegt in Putins Interesse. Beim SCO-Gipfel lobte er Pekings Position als "ausgewogen". Im UN-Sicherheitsrat ziehen die zwei Vetomächte an einem Strang. Beide Länder eint der gemeinsame Gegner USA – und das streben nach einer anderen Weltordnung, wie sie in Usbekistan betonten.
Öffentlich erwähnte Xi Jinping die Ukraine mit keinem Wort, beschrieb Putin aber als "alten Freund". Er wolle mit Russland kooperieren, um die "jeweiligen Kerninteressen des anderen" zu unterstützen. Die Asymmetrie zwischen dem wirtschaftlichen Riesen China und seinem rezessionsgeplagten Nachbarn Russland war jedoch zu spüren. Schon vor Krieg und Sanktionen war das Ungleichgewicht groß. Es ist noch einmal gewachsen. Russland braucht China heute mehr als umgekehrt. In dem "außenpolitischen Tandem", das Putin beschwört, sitzt Peking am Lenker.
"China und Russland betonen beide, dass sie eine amerikanisch-dominierte Weltordnung abwehren wollen, eine andere Weltordnung schaffen wollen", sagte der Politikwissenschaftler Thomas Jäger von der Universität Köln im Gespräch mit ntv. "Aber als Präsident Putin sagte, dass er die Fragen und Sorgen Chinas in Bezug auf den Krieg verstehe, das war schon bemerkenswert." Es seien "deutliche Risse erkennbar" zwischen China und Russland, so der Experte.
Denn der andauernde Krieg in der Ukraine stellt China zunehmend vor Herausforderungen, meint der Historiker Sören Urbansky. So sei die Ukraine ein wichtiger Handelspartner für China gewesen, etwa bei Getreide. "Zudem bringt der Krieg China in eine Position, in der es Entscheidungen treffen muss. Die Wirtschaftsbeziehungen zum Westen, zur EU und den USA, sind nach wie vor sehr viel wichtiger als die Wirtschaftsbeziehungen zu Russland", so Urbansky zu "Tagesschau.de". "Je länger dieser Krieg dauert, desto schwerer wird es für China, zwischen Russland und dem Westen zu lavieren. Und umso mehr wird China sich gezwungen sehen, sich klarer zu positionieren und für eine Seite Partei zu ergreifen." Das bringe China in eine Bredouille.
Für Putin sind die Beziehungen zu den beiden bevölkerungsreichsten Ländern der Welt auch wichtig um zu demonstrieren, dass Russland international bei Weitem nicht so isoliert ist, wie es der Westen gern hätte. Und so betonte der Kremlherrscher bei dem Gipfel-Treffen demonstrativ: "Die wachsende Rolle neuer Machtzentren, die miteinander kooperieren, wird immer deutlicher." Wohlwissend, dass er auf diese Kooperation angewiesen ist.
Quellen: "New York Times", "Financial Times", "Tagesschau.de", Redaktionsnetzwerk Deutschland, "t-online.de", "Süddeutsche Zeitung", ntv, mit Material der Nachrichtenagentur DPA