Auftritt in Moskau Putin will es nicht gewesen sein: Wie der Kremlherrscher seinen Krieg wieder einmal begründet

Russlands Präsident Wladimir Putin
Russlands Präsident Wladimir Putin
© Mikhail Metzel/Pool Sputnik Kremlin/AP / DPA
Wladimir Putin hat in Moskau über den Krieg in der Ukraine referiert. Die Kurzzusammenfassung: Russland ist nicht das Problem, sagt Russlands Präsident. 

Wladimir Putin will es nicht gewesen sein. Russland ist völkerrechtswidrig in die Ukraine einmarschiert? Der Westen habe seinem Land keine andere Wahl gelassen. Russland droht mit dem Einsatz von Atomwaffen? Wenn überhaupt, dann nur, weil der Westen damit angefangen habe. Russland lässt nicht mit sich reden? Schon, aber der Westen wolle nicht.    

Viele von den diffusen und immer konfuser werdenden Anwürfen des russischen Präsidenten sind nicht neu. Trotzdem wiederholt sie Putin mit demagogischer Beharrlichkeit, wohl auch in dem Bestreben, dass irgendetwas von seinen schwindelerregenden Erzählungen hängen bleiben könnte – und von den Fakten, die ihm sowohl auf dem Schlachtfeld als auch im eigenen Land zusetzen, abzulenken vermag. 

So auch geschehen bei einem Moskauer Diskussionsforum am Donnerstagnachmittag. Dort referierte der russische Präsident mehrere Stunden über seine Sicht der Dinge, besser gesagt über all die Undinge, die der "aggressive Westen" aus Wladimir Putins Warte der gesamten Welt überzustülpen versuche.

Die Rede wurde weithin als eine Art Grundsatzrede erwartet. Daraus geworden ist eine bizarre Rechtfertigung der russischen Kriegshandlungen. Die Kurzzusammenfassung: Russland ist nicht das Problem, sagt Russlands Präsident.

"Im Gegensatz zum Westen steigen wir nicht in einen fremden Hof"

Putin drosch wortreich auf den Westen ein, der versuche, seine Regeln und liberalen Werte anderen aufzudrücken. Die "tektonischen Veränderungen" in der Ukraine zeigten, dass die von den USA angestrebte Vormachtstellung in einer monopolaren Welt der Vergangenheit angehöre. Die "historische Periode" einer Dominanz des Westens neige sich dem Ende zu. Und Russland werde sich mit einem "Diktat" eines "neokolonialen Westens" nicht abfinden. 

"Der Westen ist nicht in der Lage, allein die Menschheit zu führen, so sehr er das verzweifelt versucht", will es Putin verstanden wissen. Und: "Im Gegensatz zum Westen steigen wir nicht in einen fremden Hof." Auch das sagte der russische Präsident, der vor acht Monaten den Einmarsch des russischen Militärs in die Ukraine befohlen hatte.

Das ist natürlich grober Unfug – den Putin selbst vielleicht sogar glauben mag –, folgt jedoch dem geläufigen Spin des Kreml, dass Russland einer Bedrohung durch den Westen im Allgemeinen und der Nato im Besonderen ausgesetzt sei und sich dagegen zur Wehr setzen müsse.

Das Ziel ist offenkundig: Das Narrativ, also die Deutung über Russlands Krieg, zu setzen. Dieses hat sich im Verlauf der Kampfhandlungen mitunter spektakulär gewandelt.

Der Westen war's, meint Wladimir Putin

"Das erste russische Narrativ war, dass von der 'nazistischen Ukraine' eine Gefahr für die Sicherheit Russlands ausgehe. Russland müsse sich gegen diese drohende Gefahr verteidigen", schrieb der Politikwissenschaftler Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck auf Twitter. "Das zweite Narrativ war dann, dass der kollektive Westen Krieg gegen Russland führe und Russland zerstören und zerstückeln wolle. Der Krieg sei daher eine existentielle Frage für den russischen Staat."

Beide Narrative versuchte Putin nun zu bespielen. So sagte er zu den Gründen des Krieges einmal mehr, dass das Streben der Ukraine in die Nato mit russischen Sicherheitsinteressen nicht vereinbar sei. "Die Nato-Erweiterung um die Ukraine war für uns völlig inakzeptabel, und jeder wusste das, und sie ignorierten es", behauptete Putin. "Russen und Ukrainer sind historisch gesehen ein Volk. Es ist fast so, als würde gerade ein Bürgerkrieg stattfinden", fuhr er fort. 

Putin hatte die russische "Spezialoperation" vorgeblich befohlen, um die Russen in der Ukraine vor einem angeblichen "Nazi"-Regime und "Völkermord" zu bewahren. Es war kein "Krieg", weil es keiner sein musste – jedenfalls nach seiner Weltanschauung. Doch die Ukraine wehrte sich gegen die vermeintliche "Befreiung" durch Russland, fügte den Invasoren in ihrem Abwehrkampf schwere Verluste auf dem Schlachtfeld zu. Nicht zuletzt durch militärische Unterstützung westlicher Länder, die allmählich zum wahren Feind in der russischen Erzählung avancierten.

Ukraine-Krieg: 19-Jährige kämpft an vorderster Front gegen Russland
Ukraine-Krieg: 19-Jährige kämpft an vorderster Front gegen Russland
"Geben 100 Prozent, um den Feind zu stoppen" – 19-Jährige kämpft an vorderster Front gegen Russland

In Moskau warf Putin dem Westen nun vor, die globale Weltherrschaft anzustreben und anderen Nationen ihre Bedingungen auf "gefährliche, blutige und schmutzige" Weise zu diktieren. "Die Macht über die Welt ist das, worauf der sogenannte Westen in seinem eigenen Spiel setzt. Aber das ist ein gefährliches Spiel", so Putin.

Dieser Argumentation folgend, bestritt Putin, dass Russland den Einsatz von Nuklearwaffen gegen die Ukraine erwogen habe. "Wir haben nie vorsätzlich etwas über die Möglichkeit des Einsatzes von Atomwaffen durch Russland gesagt", behauptete er. Man habe lediglich mit Hinweisen auf entsprechende Drohungen westlicher Führer reagiert. "Wir müssen das (den Einsatz von Atomwaffen, Anm. d. Red.) nicht tun", so Putin. "Das hat für uns keinen Sinn, weder politisch noch militärisch."

Wohlgemerkt: Es war Putin selbst, der abermals mit dem Einsatz von Nuklearwaffen gedroht hat, ebenso wie kremltreue Kriegsbefürworter (mehr dazu lesen Sie hier). Noch am Mittwoch beaufsichtige der russische Präsident ein Übungsmanöver der Nuklearstreitkräfte. Zumal sich frühere Zusicherungen Moskaus über die eigenen Absichten als unzuverlässig erwiesen haben: In den Tagen vor dem russischen Einmarsch bestritt Moskau, die Ukraine angreifen zu wollen.

"Das ist ein Trick – er sollte niemanden entspannen lassen", sagte die russische Politologin Tatiana Stanovaya zur "New York Times". "Putins Ziel ist es zu zeigen, dass Eskalation das Produkt westlicher Politik ist."

Und so wiederholte Putin auch die russische Behauptung, dass die Ukraine eine "schmutzige Bombe" baue, also eine konventionelle Bombe, die mit radioaktivem Material versetzt ist. Angeblich, so Putin, um nach einem Einsatz dann Russland die Schuld in die Schuhe zu schieben.

Unlängst haben die Ukraine und mehrere ihrer westlichen Unterstützer die Behauptungen – für die Russland bislang nur gefälschte "Beweisfotos" vorgelegt hat – als Desinformationen zurückgewiesen. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass der Kreml selbst einen Vorwand für den möglichen Einsatz einer Nuklearwaffe suchen könnte (mehr dazu lesen Sie hier).

Das neueste Narrativ

Putins Verwirrspiel zielt offenkundig darauf ab, die Drohkulisse gegenüber der Ukraine und dem Westen aufrechtzuerhalten. Möglicherweise aber auch, um eine weitere Eskalation des Kriegsgeschehens auch gegenüber der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen, das aus russischer Sicht zuletzt von mehreren Misserfolgen geprägt war.

Denn Russland sei bereit zu verhandeln, beteuerte Putin nun wiederholt – allerdings habe sich die Regierung in der Ukraine unter dem Einfluss der USA gegen solche Gespräche entschieden. Soll wohl heißen: Der Westen ist Schuld und Russland hat praktisch keine andere Wahl, als die "Spezialoperation" fortzusetzen. 

"Ich habe immer an die Kraft des gesunden Menschenverstandes geglaubt und glaube daran", sagte Putin. "Ich bin daher davon überzeugt, dass die neuen Zentren der multipolaren Weltordnung und der Westen früher oder später ein Gespräch auf Augenhöhe beginnen müssen."

Fragt sich noch, mit welchem Westen der russische Präsident reden will – denn es gebe "mindestens zwei" davon, so Putin. Nach Ansicht von Politikwissenschaftler Mangott handelt es sich dabei um das dritte Narrativ, womit der Kreml seinen Krieg zu rechtfertigen versucht. 

"Das dritte Narrativ ist nun, dass ein Kampf der Zivilisationen stattfinde", schrieb er auf Twitter. "Zwischen einem moralisch verkommenen, satanischen Westen und dem christlichen, traditioneller Moral verbundenen Russland. Es geht jetzt darum, dass Russen ihre Lebensweise fortsetzen können."

Dem einen Westen fühlten sich die Russen verbunden, so Putin: jenem mit "traditionellen, hauptsächlich christlichen Werten." Doch gebe es auch "einen anderen Westen – aggressiv, kosmopolitisch, neokolonial, der als Waffe der neoliberalen Elite fungiert" und versuche, seine "ziemlich seltsamen" Werte allen anderen aufzuzwingen. Putin spickte seine Bemerkungen noch mit Verweisen auf "Dutzende von Geschlechtern" und "Schwulenparaden". 

Putins Rede, die fernab der Fakten verlief, und eine anschließende Fragerunde, in der die russischen Schwierigkeiten auf dem Schlachtfeld nur spärlich zur Sprache kamen, dauerten rund vier Stunden. Was bleibt festzuhalten? Mykhailo Podolyak, ein Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, hat es versucht.

"Jede Rede von Putin kann mit zwei Worten zusammengefasst werden", schrieb er auf Twitter: "Nach Freud". Putin beschuldige den Westen, die Souveränität eines anderen Landes zu verletzen, obwohl er selbst genau das getan habe. "Wer Wind sät, wird Sturm ernten", so Podolyak weiter. "Der Sturm kommt." 

Quellen:  "The New York Times", CNN, "Grid News", "Frankfurter Allgemeine Zeitung", mit Material der Nachrichtenagentur DPA