Die gezinkten Würfel sind gefallen, die Verfassung ist geändert, der Rest ist reine Formalität: Am Sonntag werden die Delegierten der Kommunistischen Partei (KP) Xi Jinpings dritte Amtszeit als Generalsekretär offiziell bestätigen. Damit avanciert Xi höchstwahrscheinlich zum absoluten Herrscher auf Lebenszeit und tritt damit endgültig in die Fußstapfen von Staatsgründer Mao Tsetung. Den Weg dafür hatte er bereits 2018 geebnet, als er die Begrenzung der Amtszeit des Staatschefs auf zwei Mandate abschaffte. Es ist der krönende Abschluss der beispiellosen Transformation eines unbedeutenden Parteimitglieds hin zum unangefochtenen Führer der bald mächtigsten Volkswirtschaft des Planeten.
"Ära des maximalen Xi"
Unter den Blicken der 2300 Delegierten erklärten Regierungschef Li Keqiang und Parlamentschef Li Zhanshu, so etwas wie die letzten Widersacher des "Überragenden Führers", ihren Rückzug. Im Zuge seiner Inthronisierung – anders lässt sich das, was am Samstag in Peking auf den Weg gebracht wurde, nicht beschreiben – wird der 69-jährige Xi am Sonntag die neuen Mitglieder seiner Führungsmannschaft, des Ständigen Ausschusses vorstellen. Auf die freien Plätze wird Xi erwartungsgemäß enge Gefolgsleute hieven. Indem er die sieben Sitze des Ständigen Ausschusses, dem eigentlichen Zentrum der Macht, mit Loyalisten besetzt, erstickt er jedweden künftigen Widerspruch gegen seine politische Linie im Keim. "China ist in eine neue Ära des maximalen Xi eingetreten", sagt Neil Thomas, ein Analyst für chinesische Politik bei der "Eurasia Group" gegenüber der "New York Times" (NYT).
Dass mit Li Keqiang auch der zweitmächtigste Mann des Landes seinen Posten räumt, spricht Bände. Li galt angesichts Xis stetig wachsender Macht als eine Art letzter Wellenbrecher. "Es wurde viel über den Premierminister als Retter gesprochen – dass diese Beamten in der Nähe bleiben und Xi zurückdrängen könnten, aber offensichtlich wird das nicht passieren", sagt Christopher Johnson, der Präsident der China Strategies Group und ehemaliger CIA-Analyst der NYT.
Symbolisch war auch das unschön anzusehende Aus des 79 Jahre alten früheren Staats- und Parteichefs Hu Jintao. Der gebrechlich wirkende 79-Jährige wurde kurz vor den Verfassungsänderungen von zwei Saalordnern offensichtlich gegen seinen Willen von seinem Platz neben Xi vom Podium in der Großen Halle des Volkes geführt. Hu, der das Amt des Generalsekretärs 2012 an Xi übergeben hatte und nicht unbedingt als dessen Unterstützer galt, stand für das "alte" Modell, das dazu gedacht war, einen neuen Mao zu verhindern. Ein Modell, dem die Volksrepublik an diesem Wochenende endgültig den Rücken kehrt.
Nun ist klar: Xi ist Chinas Gegenwart und Zukunft. Dabei könnte er sogar noch einen Schritt weiter gehen und sich zum Parteivorsitzenden ernennen lassen – ein Posten, den seit Mao niemand mehr innehatte. In dem Fall, so "Sky News", könnte er auf den dann unnötigen Posten des Generalsekretärs verzichten und ihn einem jüngeren Günstling überlassen. Möglich ist auch, dass er seine persönliche Ideologie, den "Xi Jinping-Gedanken" in der Verfassung verankert. Auch das hat seit Mao kein chinesischer Führer mehr gewagt. Bereits jetzt werden Xis politische Grundsätze, die auf den griffigen Titel "Xi Jinping-Gedanken für den Sozialismus chinesischer Prägung in einer Neuen Ära" hören, an Grundschulen gelehrt. Beides würde in der Praxis nicht viel ändern, die symbolische Bedeutung wäre jedoch enorm.
Der Erbe des Mao
Als Xi 2012 das Amt des Generalsekretärs übernahm, kannten die wenigsten seinen Namen. Diejenigen, die von ihm gehört hatten, hofften, dass er einen ähnlich liberalen Kurs wie sein Vater Zhongxun einschlagen würde, der als Vizepremier gedient hatte. Sie sollten enttäuscht werden.

Heute, zehn Jahre später, ist Xi Jinping der mächtigste chinesische Regierungschef seit Mao und in Anbetracht seiner schier absoluten Kontrolle über den Staatsapparat der wohl mächtigste Mann der Welt. Dabei, so berichtet der britische "Guardian", hatte sich sein Vater noch für ein Gesetz zum Schutz der Meinungsfreiheit eingesetzt. Doch fiel Xi Senior im Mao-Regime in Ungnade – was das Leben seines bis dahin privilegierten Sohnes auf den Kopf stellte und seine Ideologie für immer prägen sollte. "Sein Vater war ein Liberaler, aber er kam ins Gefängnis. Um das Schicksal seines Vaters zu vermeiden, hat Xi gelernt, die Dinge anders zu machen", zitiert die Zeitung einen Experten.
Als Mao 1976 starb, richtete die Partei ein System kollektiver Führung ein, um zu verhindern, dass jemals wieder die gesamte Macht in die Hände eines einzelnen Mannes fiele. Es ist wohl als Ironie der Geschichte zu betrachten, dass der Sohn eines Funktionärs, der unter Mao alles verlor, drauf und dran ist, das Erbe ebenjenes Diktators anzutreten.
Alles, was Xi Jinping in der letzten Dekade unternommen hat, diente dazu, seine Macht nicht nur zu sichern, sondern auszuweiten. Dazu räumte er kompromisslos potenzielle Rivalen aus dem Weg, unterdrückte die kleinsten Meinungsabweichungen. Seine Krönung an diesem Wochenende ist der Höhepunkt seiner politischen und wirtschaftlichen Säuberungspolitik. "Was mir an Xi Jinping am meisten auffällt, ist seine stalinistische Art des Regierens: Er nutzt seinen Apparat, um die Partei zu säubern, [betont] die einheitliche Führung der Partei und kehrt zur echten Parteidiktatur zurück", sagt Jean-Philippe Béja, emeritierter Forschungsprofessor an der Sciences Po in Paris dem "Guardian". Seit seiner Machtübernahme, so der US-Nachrichtensender CNN, sei gegen 4,6 Millionen Beamte ermittelt worden – weder niedere Beamte ("Fliegen"), noch hochrangige Entscheidungsträger ("Tiger") waren davor gefeit.
Xiismus: Ein Geschenk für den Westen?
Mit der Zementierung seiner Macht, tut Xi dem von ihm so verhassten Westen einen Gefallen, glaubt das US-Fachmagazin "Foreign Policy". So wüssten die USA und ihre Verbündeten jetzt immerhin, woran sie mit China sind. Denn in den vergangenen 25 Jahren fanden die Führungswechsel in Peking mit der Genauigkeit eines Schweizer Uhrwerks statt. "Nach jeder Umbesetzung verbrachten westliche Wissenschaftler Jahre damit, öffentliche Reden und Aufsätze in Parteizeitungen zu analysieren", so "Foreign Policy". Bis man im Westen auch nur annähernd die jeweilige Regierungsphilosophie verstanden habe, sei bereits der nächste Parteiführer an der Reihe gewesen. Kurzum: Mit Xis absehbarer Herrschaft auf Lebenszeit ist China endlich wieder berechenbar. Doch das hat seinen Preis.
Die letzten Überbleibsel des politischen Pluralismus sind einem zentralisierten Personenkult gewichen. Die freie Marktwirtschaft, der Schlüssel zu Chinas Wandel vom armen Agrarstaat hin zur ökonomischen Supermacht, muss sich dem zunehmendem Einfluss des Staats beugen. "Die Kommandowirtschaft kommt zurück. Aber nicht die marxistische soziale Idee", meint auch Chinaexperte Steve Tsang im Interview mit dem "Spiegel". Dass sich die KP an diesem Wochenende Xi zu Fußen wirft, ist das Resultat eines massiven Wandlungsprozesses. Denn Xi hat nicht nur versprochen, sondern auch geliefert.
Der unausgesprochene Deal: wirtschaftlicher Aufschwung und geopolitische Macht im Tausch gegen politische und individuelle Freiheit. Seine Vision der "großen Verjüngung" hat reiche Früchte getragen – zu einem hohen Preis. Besonders deutlich wurde das mit Beginn der Corona-Pandemie, die einen passenden Vorwand lieferte, um eine allumfassende, hoch-technologisierte Überwachung einzuführen. Von dieser "Null-Covid-Strategie" ist die Führung bis heute keinen Millimeter abgerückt.
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Es ist auch kein Geheimnis, das Xi sich nicht mit China allein zufriedengibt. Eigentlich folgt China in Sachen Außenpolitik seit Jahrzehnten seinen "fünf Prinzipien", die da heißen: "gegenseitige Achtung der Souveränität und territorialen Integrität, gegenseitiger Nichtangriff, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen, Gleichheit und gegenseitiger Nutzen sowie friedliche Koexistenz." Doch hat Xi die Kunst der Verlockung perfektioniert. Mit den Milliardeninvestitionen seiner "Neuen Seidenstraße" hat sich sein Reich der Mitte Einfluss in jedem Winkel der Welt erkauft und ressourcenreiche, aber arme Staaten rund um den Globus abhängig gemacht.
Dabei hatte sich Xi vor allem zu Beginn seiner Regentschaft reichlich Mühe gegeben, China als verlässlichen Partner in Sachen Handel und Sicherheitspolitik zu präsentieren. In den darauffolgenden Jahren zeichnete sich jedoch immer stärker ab, worum es ihm eigentlich ging: Er baute eine auf ihn maßgeschneiderte Ideologie auf, die ihren bisherigen Höhepunkt diesen Samstag erreichte, als er die Partei aufrief, mit ihm "in Denken, Politik und Handeln" im Gleichschritt zu bleiben. Wie seinem machtpolitischen Vorbild Mao ist es ihm gelungen, einen ganzen Staat seinem Personenkult zu unterwerfen: Es ist der Beginn des Xiismus.
Quellen: "New York Times"; "Foreign Policy"; "Guardian"; "Sky News"; mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und AFP