TV-Debatte bei Anne Will Sehr viel Expertenwissen, wenige Fakten: Im Russland-Talk bei "Anne Will" gab es kaum Konkretes

  • von Andrea Zschocher
Anne Will
Anne Will und ihre Gäste im Studio diskutieren über den Putschversuch in Russland
© NDR/Wolfgang Borrs
Bei "Anne Will" war das Thema des Abends der Putschversuch in Russland. Doch dass es dazu nur wenige verifizierte Informationen gibt, wurde auch in der Sendung deutlich – und das erschwerte die Debatte.

Diese Sendung von Anne Will war ein Blick in die Glaskugel. "Machtkampf in Russland – Verliert Putin die Kontrolle?", unter dieser Frage stand die Talkshow. Und die Antwort: Alle hoffen auf eine Schwächung von Russlands Präsidenten, aber Genaues weiß niemand.

Zu Gast bei "Anne Will" waren:

  • Sabine Adler, Osteuropaexpertin beim Deutschlandradio, ehemalige Korrespondentin in Moskau
  • Lars Klingbeil (SPD), Parteivorsitzender
  • Roderich Kiesewetter (CDU), MdB, Außenpolitiker, Oberst a.D.
  • Steffen Mau, Soziologe an der Humboldt Universität zu Berlin
  • Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München
  • Zugeschaltet aus Moskau: Ina Ruck, Auslands-Korrespondentin der ARD in Moskau
  • Zugeschaltet aus Kiew: Vassili Golod, Ukraine-Korrespondent der ARD

Was alle Gäste Anne Wills an diesem Abend einte: Der Wunsch, dass Putin durch den Putschversuch von Prigoschin und seiner Wagner-Truppe geschwächt sei, dass der Anfang vom Ende bevorstehen würde. Lars Klingbeil war immerhin ehrlich genug, in seine Erläuterungen, warum er dieser Überzeugung ist, noch einzuflechten, dass eventuell sein Wunsch, er möge Recht haben, ihn Geschehnisse und Aussagen dementsprechend einordnen lässt.

Seine Annahme, dass der russische Präsident geschwächt aus dem Putschversuch hervorgehen könnte, fußt vor allem auf der Hoffnung, dass Russlands Eliten sich nicht mehr sicher fühlen und Putin misstrauen könnten. Das könnte seine Wiederwahl, die im nächsten Jahr bevorsteht, verhindern.

Wer wollte Prigoschin unterstützen?

Der Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München, Carlo Masala, sah den Angriff Prigoschins vor allem als einen "Schlag ins Gesicht" Putins, dessen ganzer "Nimbus" darauf aufbaut, dass er sich als starker Mann inszeniert. Diese Inszenierung sei nun dahin. Die Osteuropaexpertin Sabine Adler führte aus, dass Prigoschin sich vor allem sehr sicher gefühlt haben muss, sie vermutet, dass amtierende Geheimdienste den Oligarchen unterstützt haben könnten.

Auch Masala teilte diese Ansicht, denn die 400 gepanzerten Fahrzeuge, mit denen der Wagner-Chef sich auf den Weg machte, die "verlieren sich in Moskau schnell". Prigoschin schien davon ausgegangen zu sein, dass sich ihm viele Menschen anschließen würden. Dem war nicht so und doch befanden die Gäste bei Anne Will im Studio einhellig, dass dieser Putschversuch Putin "nachhaltig geschwächt" hat, wie Adler behauptete.

Angenehm war, dass in dieser Talkrunde sehr viel Expertenwissen vorhanden war, welches Vorfälle einordnen konnte. Das fehlt oft, sodass oft nur der am meisten Redezeit bekommt, der am lautesten brüllt. Diese Runde war wirklich angenehm, auch, weil alle ähnliche Informationen hatten und einander gut ergänzten.

Aber auch dieses Wissen hilft nicht, wenn Bilder inszeniert sein können und aktuell nur wenige bestätigte Fakten existieren. Es bleibt schlicht Wünschen, Hoffen und Glauben, und das wird nicht automatisch zu Wissen, nur weil es mehrfach in einer Talksendung wiederholt wird. "Wir stochern im Nebel" fasste die Moskau-Korrespondentin Ina Ruck die begrenzten Möglichkeiten, verlässliche Aussagen zu treffen, folgerichtig zusammen. 

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Sagen, was ist: Das gilt auch für die aktuelle Berichterstattung

Natürlich müssen Sendeminuten gefüllt werden, wollen wir alle uns informiert fühlen. Aber einer der wichtigsten Grundsätze, zumindest für Journalist*innen, ist noch immer das Augstein-Zitat "Sagen, was ist". Und eben nicht zu raten oder zu hoffen. Ruck berichtete, dass die Menschen in Moskau schon besorgt gewesen seien, aber sie nicht davon ausgeht, dass sich aktuell etwas an Putins guten Umfragewerten ändert. "Subkutan" würde der Putschversuch aber schon wirken, "das vergessen die Leute nicht", so die Korrespondentin, auch wenn russische Medien aktuell versuchen würden, das Narrativ der Geschehnisse zu beeinflussen.

Auf die Frage, ob die Russen Putin ihr Vertrauen entziehen würden, gab Ruck an, keine belastbare Aussage machen zu können. Sie hatte laut eigener Aussage auch nicht mit genug Russen gesprochen, um ein Meinungsbild abgeben zu können. Die Menschen müssten, so Ruck, erst mal verstehen, was passiert ist und das braucht Zeit. Die Unsicherheit im Land könnte steigen und das könnte zu einem schlechteren Wahlergebnis führen. Aber zum jetzigen Zeitpunkt sei all das nur Spekulation.

Immerhin waren die Anwesenden schlau genug, nicht auch noch über den Verbleib von Prigoschin zu spekulieren oder zu erraten, ob und wie dessen Leben weitergeht. Carlo Masala wies nur darauf hin, dass das Leben des Wagner-Chefs in Gefahr sei. "Mir würde das nicht leidtun, er ist ein Massenmörder", so Masala, der nun für den Rest seines Lebens nicht mehr sicher sei. Aktuell ist unbekannt, wo der Wagner-Chef sich überhaupt aufhält. 

Waren andere Geheimdienste besser informiert als der BND?

Roderich Kiesewetter wollte im Talk vor allem einen Punkt machen: Es sei wichtig, dass die Unterstützung für die Ukraine jetzt nicht nachlasse, insbesondere die Krim müsse wieder stärker in den Fokus rücken. Die militärische Unterstützung, neue Waffenlieferungen und die Entlastung der USA seien wichtig, weil all diese Hilfen dazu beitragen könnten, Russland zu schwächen.

Anne Will wollte vom Oberst a.D. wissen, ob die US-amerikanischen Geheimdienste mehr Wissen hätten als die deutschen. "Der BND war genauso informiert wie die CIA", gab Kiesewetter zurück und wies darauf hin, dass der "Zerfall einer Diktatur" nicht vorhersehbar sei.

Es gab Anzeichen dafür, dass etwas geschehen würde. Sabine Adler führte aus, dass neben der Unzufriedenheit Prigoschins mit der Ausstattung des Militärs und der Ausführung von Operationen vor allem die Tatsache, dass ab dem 1. Juli Privatarmeen dem russischen Militär zugeordnet werden, die Situation verschärft hätte.

Die Schalte zu Vassili Golod nach Kiew holte den andauernden Krieg zurück in die deutschen Wohnzimmer. Denn es gab einen Luftalarm in der ukrainischen Hauptstadt, der Korrespondent schickte voraus, dass seine Kolleg*innen die Situation beobachten würden, während er Eindrücke wiedergab.

In der Ukraine gäbe es weiterhin die konkrete Hoffnung auf mehr Unterstützung und eine "Kampfjetkoalition". Sowohl Lars Klingbeil als auch Roderich Kiesewetter warben für diese Idee, wenn auch mit unterschiedlichem Nachdruck. Auch an dieser Front herrscht momentan viel Hoffen und Wünschen.  

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