Brandmauer nach rechts Kooperationen mit der AfD: Was Friedrich Merz anspricht, passiert schon seit Jahren

Vor allem im Osten feiert die AfD Erfolge in Umfragen und Wahlen
Vor allem im Osten feiert die AfD Erfolge in Umfragen und Wahlen. Und vielerorts kooperieren Politiker anderer Parteien bereits mit der Rechtsaußen-Partei.
© Jens Wolf / DPA / Picture Alliance
Nach den widersprüchlichen Aussagen ihres Parteichefs diskutiert die CDU über die Frage, ob man auf kommunaler Ebene mit der AfD zusammenarbeiten dürfe. Dabei geschieht das in bestimmten Regionen seit Jahren. Nicht nur CDU-Lokalpolitiker überschreiten immer wieder die rote Linie ihrer Bundesparteien.

Darf man in der Kommunalpolitik mit der AfD kooperieren? Diese Frage an CDU-Parteichef Friedrich Merz im ZDF-"Sommerinterview" hat eine massive Debatte ausgelöst – und einen Schlingerkurs des Parteivorsitzenden, der ihn über Nacht in eine echte Krise gestürzt hat. Betonte Merz am Sonntagabend noch, dass die CDU die Kooperation nur in gesetzesgebenden Körperschaften, "also im Europaparlament, im Bundestag und in den Landtagen" ausschließe, stellte Merz am Montagmorgen "klar", dass es auch auf kommunaler Ebene keine Zusammenarbeit seiner Partei mit der AfD gebe. Nur: Die gibt es bereits seit Jahren.

Und das nicht nur von Seiten der CDU. Auch sozialdemokratische, grüne und linke Lokalpolitiker haben sich schon mit der AfD strategisch und inhaltlich abgesprochen, sie stimmten AfD-Anträgen zu oder wählten Politiker der Partei auf entscheidende Posten. Manche Vorgänge drangen kaum an die lokale Öffentlichkeit, andere Fälle verärgerten sogar die Berliner Parteispitzen – trotzdem überschreiten Politiker in Stadträten oder Gemeinden immer wieder die von den Bundesparteien gesetzte rote Linie.

In Ostdeutschland sind etliche Fälle dokumentiert

Sind das bloß einzelne Ausrutscher, oder hat die Kooperation mit der AfD im Kommunalen System? Eine umfassende Übersicht der Zusammenarbeit mit der teils rechtsextremen Partei gibt es nicht. Das an der Universität Leipzig angesiedelte Else-Frenkel-Brunswik-Institut zählt aber allein 20 Fälle innerhalb der letzten vier Jahre in Sachsen auf. Die "Zeit" recherchierte 2021 40 Fälle der Zusammenarbeit. Viele der Kooperationen kommen in Kommunen in Ostdeutschland zustande, am häufigsten zwischen CDU und AfD – aber eben nicht nur.

Erst im Februar stimmten im thüringischen Hildburghausen Stadträte der SPD gemeinsam mit der AfD und einem rechtsextremen lokalen Bündnis für einen Bürgerentscheid, um den linken Bürgermeister Tilo Kummer aus dem Amt zu werfen. Der SPD-Landesvorstand beschloss daraufhin ein Parteiordnungsverfahren gegen die Beteiligten.

Von kurzen Absprachen bis hin zur Fraktionsbildung

Doch die Zusammenarbeit ging in der Vergangenheit auch über punktuelle, kurzfristige Abstimmungen hinaus: So gründete 2019 ein sächsischer Gemeinderat, der jahrelang von den Grünen unterstützt wurde, eine gemeinsame Fraktion mit der AfD. Mit dabei waren auch zwei parteilose Ratsherren, die von der CDU unterstützt wurden. Auf höherer Ebene reagierten die Parteien entsetzt – die Gemeindepolitiker aber verstanden die Aufregung nicht. Um etwas zu erreichen, müsse man sich eben zusammentun, sagte der Grünen-nahe Gemeinderat dem "Spiegel".

Oft wird die Zusammenarbeit auf lokaler Ebene damit begründet, es ginge um pragmatische Entscheidungen, weit weg der Kernthemen AfD: Neue Spielplätze, Brücken, Zebrastreifen. Ohne eine Zusammenarbeit könne man hier keine Mehrheiten mehr erzielen, am Ende leide unter einem AfD-Boykott nur der Bürger.

So einigten sich 2020 in einer Kreisstadt in der Lausitz Linke und AfDler auf einen Neubau für den Jugendclub des Ortes. Auch im mecklenburgischen Waren stimmten Vertreter von SPD, Linken und Grünen einem eher harmlos klingenden AfD-Antrag zu: Es ging um ein Entwicklungskonzept der stadteigenen Wälder. Allerdings kam es im selben Jahr in Brandenburg zu einer Zusammenarbeit bei einem sehr viel heikleren Thema: Die Fraktionen von CDU und SPD reichten gemeinsam mit der AfD in Trebbin einen Antrag ein, in dem es um die Frage der Erinnerung an eine rechtsextremistische Gewalttat geht.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Kooperation auch bei den heiklen Themen

In den vergangenen Jahren arbeiteten vor allem CDU-Politiker auch in den Profilthemen der AfD mit der teils rechtsextremen Partei zusammen. So verhalf die CDU 2022 in Bautzen einem AfD-Antrag zur Mehrheit: Ausreisepflichtigen Flüchtlingen sollten Integrationsleistungen gekürzt werden. Der Fall wurde von prominenten Parteimitgliedern der CDU kritisiert – harte Konsequenzen gab es für die beteiligten Politiker aber keine.

Jenseits der Fälle, die als Skandale in den Schlagzeilen landen, bleiben Absprachen auf Kommunalebene wohl meist unter dem Radar der Parteiführungen. Was in den Raucherpausen des Stadtparlaments oder beim Dorffest bequatscht wird, darin hat auch ein Friedrich Merz keinen Einblick.

Wenn in Berlin über Brandmauern diskutiert wird, werden die CDU-Kollegen hier vorsichtiger

Anruf bei einem AfD-Stadtrat aus Leipzig. Klar spreche man sich im Stadtparlament ab und an mit der CDU-Fraktion vor Abstimmungen ab, erzählt Marius Beyer. Auch habe er schon gemeinsam Anträge mit Christdemokraten verfasst. "Sobald in Berlin wieder über Brandmauern diskutiert wird, werden die CDU-Kollegen hier vorsichtiger, aber dann gibt es auch wieder Phasen, da arbeitet man gerne mit uns zusammen – wir sind uns mit vielen CDU-lern ja auch inhaltlich nah."

Die Brandmauer zur AfD, die die CDU einst auf einem Parteitag beschlossen hat, wird seit Jahren auf kommunaler Ebene unterspült – nicht nur in den Orten, wo eine Zusammenarbeit unausweichlich scheint. Die Frage, wie man mit dieser Tatsache umgehen soll, wird sich der CDU und auch den anderen großen Parteien weiterhin und in zunehmender Frequenz stellen.

Die AfD liegt in Umfragen deutschlandweit bei mehr als 20 Prozent, in vielen Kommunen ist sie die stärkste Partei. Vor drei Wochen wurden innerhalb weniger Tage der erste AfD-Landrat und der erste AfD-Bürgermeister gewählt. Vor Ort fällt es Lokalpolitikern immer schwerer, den Vorgaben aus Berlin treu zu bleiben, und nicht mit der AfD zu kooperieren, ohne sich komplett aus dem politischen Feld zurückzuziehen. Im kommenden Jahr finden in Brandenburg, Sachsen und Thüringen Landtagswahlen statt. Dann könnte sich dieses Dilemma auch auf Länderebene ausweiten.

wue

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