China? Ach ja, China. Ist ja ein wenig aus dem Blickfeld geraten in letzter Zeit. Einfach ein bisschen weit weg und außerdem zu viel los in der näheren Umgebung. Syrien, Türkei, die Flüchtlinge. Putin. Der drohende Brexit. Griechenland nicht zu vergessen.
Andererseits wäre Angela Merkel nicht die in eher längeren Linien denkende Frau, die sie meistens ist, wenn sie vor den nahen Problemen die räumlich wie zeitlich etwas entfernteren Herausforderungen einfach vergessen würde. Und deshalb steht die laut "Forbes" "mächtigste Frau der Welt", deren Bürger sich problemlos in einem Dutzend chinesischer Provinzstädte unterbringen ließen, an diesem Montag wieder einmal in der Großen Halle des Volkes und schreitet mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Li Keqiang die Ehrenformation ab, während draußen ein gnädiger Regen die Pekinger Schwüle etwas mildert. Im Schlepp hat Merkel fünf ihrer Minister, eine Handvoll Staatssekretäre und so ziemlich alle deutschen Wirtschaftsbosse, die ihre fünf Geschäftssinne noch beieinander haben.
Wie beim Speed-Dating
Knapp drei Stunden später kann man im Westsaal der Großen Halle eine der skurrileren Vertragsunterzeichnungszeremonien der jüngeren Geschichte beobachten. Zwei Dutzend Abkommen sind zu unterzeichnen, in zwei Dutzend unterschiedlichen Besetzungen. Es geht um Bahn, Elektro, Digitales, Bildung. Die ganze Palette. In der Mitte des Raumes steht ein Tisch, auf jeder Seite vier Stühle. Dann ruft ein Mensch in Dieter-Thomas-Heck-Tempo acht Unterzeichner auf, vier Chinesen, vier Deutsche. Hinsetzen, unterschreiben, Mappen packen, aufstehen, die nächsten acht bitte. Es geht zu wie beim Speed dating. Merkel und Li verfolgen das Ganze stehend vom Tischende aus. Urteilt man nach ihren Handbewegungen, scheint die Kanzlerin ihrem Gastgeber den Unterschied zwischen kleinen und großen Fischen zu erklären. Li steht etwas windschief daneben wie Mr. Bean.
China? Au ja, China. Immer noch verdammt wichtig - und ein lukrativer Markt. Und auf Merkels innerer Agenda weiterhin ziemlich weit oben. Man kann das schon daran erkennen, dass sie das Land nun schon zum neunten Mal offiziell besucht - häufiger war die Kanzlerin nur in den USA. Sie hätte dafür sogar in Kauf genommen, das Auftaktspiel der deutschen Mannschaft bei der EM zu verpassen; in Peking ist es beim Anstoß nachtschlafender 3 Uhr. Geguckt hat sie das Spiel trotzdem, was sein muss, muss sein.
Politische Vernunftehe
Es ist eine Art stabiler politischer Vernunftehe, die Merkel mit China eingegangen ist. Sie weiß, dass diese immer verrückter werdende Welt, wie sie es ausdrückt, "schon genügend Konfliktpotenzial beinhaltet" und kaum ohne die Chinesen zu befrieden sein wird. Einerseits.
Andererseits sind ihre - vermutlich ohnehin nicht überschäumenden - Hoffnungen, die Volksrepublik könnte sich über kurz oder lang auf einen westlicheren Pfad begeben, zuletzt doch ziemlich gedämpft worden. Da gilt der Lehrsatz: Wer Kapitalismus sagt, muss noch lange nicht Demokratie sagen. Im Gegenteil. Seit Xi Jinping den alten Präsidenten Hu abgelöst hat, hat China, was innere Reformen angeht, eher den Rückwärtsgang eingelegt. Ton und Umgang mit Kritikern im Land werden wieder härter, Menschenrechte missachtet. Der sogenannte Rechtsstaatsprozess findet eher virtuell statt. Oder wie Merkel es einmal formuliert: Fortschritte sind allenfalls "millimeterweise zu spüren".
Das ist das aber schon Höchste an offener Kritik, die Merkel sich erlaubt. Allzu laute Kritik oder demonstrative Akte mögen zwar Beifall bringen, sonst aber nichts; sie hat das selbst gemerkt, nachdem sie am Anfang ihrer Amtszeit mal den Dalai Lama im Kanzleramt empfangen hatte. Von solchen Mutproben hält sie nichts mehr. Auch in der Beziehung regiert seit langem die Radikalpragmatikerin Merkel.
Keine Aufregung über Kuka
Lieber behandelt sie die Chinesen ein wenig wie ein zur Renitenz neigendes Kind, an dessen Potenzial man aber glaubt. Lieber überschwänglich für einen kleinen Fortschritt loben als zu heftig tadeln. Und Vorbild geben. Versprechen halten. Das Recht beachten. Niemanden vorverurteilen. Deshalb will Merkel sich dafür einsetzen, dass die Chinesen von der EU den Status als Marktwirtschaft und damit besseren Zugang zu europäischen Märkten erhalten; schließlich ist er ihnen vor 15 Jahren zugesagt worden. Deshalb will Merkel erst einmal abwarten, wie sich das ab kommenden Jahr geltende NGO-Gesetz auswirkt, von dem alle Welt glaubt, es werde die Arbeit unabhängiger Organisationen in China weiter erschweren. Und deshalb regt sie sich auch nicht über die Offerte eines chinesischen Konzerns auf, das deutsche Vorzeigeunternehmen Kuka zu übernehmen. That's Marktwirtschaft, Baby. Kann ja auch ein deutscher Konzern kommen....

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Sie hat längst einen Umweg gefunden, die Botschaft auch unter ihr Wahlvolk daheim zu bringen, dass sie nicht vor den Chinesen kuscht. Sie nutzt dazu einfach Veranstaltungen jenseits des regierungsamtlichen Protokolls. Dieses Mal ist es die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Nanjing. In ihrer Dankesrede lobt Merkel im großkoalitionären schwarz-roten Talar den Rechtsstaat, stellt die "Stärke des Rechts" vor "das Recht des Stärkeren". Sie preist als ehemalige Naturwissenschaftlerin "Freiheit, Kreativität und Diskussion. Wer Fortschritt will, muss Freiheit erhalten." Das ist hinreichend allgemein - und doch versteht jeder im Saal es genau so, wie es gemeint ist. Heftiger Beifall von den Studenten im Hörsaal.
Wie und was in Angela Merkels Kopf kommt
Und noch etwas verrät sie den Jungen Chinesen: dass man als Kanzlerin doch sehr viel seltener zum Nachdenken komme als in ihrem früheren Beruf. "Man muss aufpassen, dass überhaupt Zeit bleibt, was Neues zu lernen", erzählt Merkel 10000 Kilometer von zu Hause entfernt. "Aber manchmal erinnere ich mich, wie ich früher gelernt habe und dann kommt auch ein bisschen was in den Kopf rein."
Ach, China. Manchmal hältst du doch Überraschungen parat.