FDP-Chef Christian Lindner spielt derzeit gern den sachlichen Oppositionspolitiker. Doch mit der Wahrheit nimmt er es oft nicht so genau. Dem Mann schadet das nicht, denn er besitzt eine famose Eigenschaft, die die Wähler anzieht. Eine Spurensuche.
Wo er das nur gelernt hat? Diesen freihändigen Umgang mit der Wahrheit. Vielleicht als er im Zivildienst den Hausmeister spielte, oder während des Politik-Studiums in Bonn, in der Zeit als Reserveoffizier der Luftwaffe oder in den Anfängen seiner Karriere bei der FDP? Irgendwann schlüpfte Christian Lindner in die Rolle des Illusionskünstlers, und vielleicht wurde er gerade deshalb FDP-Chef.
Neulich bei der Jahrestagung der Privaten Krankenversicherer stand er am Pult, dunkler Anzug, weißes Hemd, rote Krawatte, die Haare hübsch frisiert, den Bart sorgsam gestutzt, jeder Zoll ein Herr. Und schummelte. Nicht wie der Lügenpräsident Donald Trump, aber was er sagte, stimmte nicht.
Wahlfreiheit ist eine Illusion
Er sprach über die Wahlfreiheit in unserem Gesundheitswesen, die sich in der Pandemie bewährt habe und bloß nicht geändert werden solle. Was er damit meint? Dass Sie, lieber Leser, wählen können, wo sie sich für den Krankheitsfall versichern können, bei Krankenkassen, wie AOK oder Barmer oder bei privaten Anbietern wie Debeka oder DKV. Deutschland, ein Land des Wettbewerbs, wo jeder die Wahl hat. Dieses Bild beschwor Lindner.
Blöd nur, dass es ein Trugbild ist. Die meisten Bürger können nicht wählen. Sie erfüllen die Bedingungen nicht. Ein Angestellter muss dafür 5363 Euro im Monat verdienen, was laut Bundesagentur für Arbeit nur zwölf Prozent der Beschäftigten können. Wählen können Selbstständige (knapp zehn Prozent der Beschäftigten) oder Beamte (etwa vier Prozent), doch der Rest, knapp drei Viertel, kann nicht wählen. Selbst wer sich einmal für die Privaten entschieden hat, kann nicht mehr groß wählen. Der Weg zurück zu AOK, Barmer und Co. ist weitgehend versperrt. Die Wahlfreiheit, die Christian Lindner beschwört, ist eine Illusion.

Sechs Prozent zahlen Spitzensteuersatz
Oder nehmen wir sein Lieblingsthema Steuern. Kaum ein Auftritt, auf dem der gelernte Politikwissenschaftler M.A. nicht den Spitzensteuersatz von 42 Prozent geißelt, weil er doch Bürger ab einem Einkommen von 58000 Euro trifft. Der Zuhörer denkt: "Wow, bei diesem niedrigen Einkommen saust bereits der Steuerhammer herab." Deutschland ein Land der Spitzensteuersatz-Zahler.
Leider auch ein Trugbild. Etwa 3,8 Millionen Deutsche zahlen den Spitzensatz, gut sechs Prozent aller Steuerzahler. 94 Prozent zahlen ihn nicht. Die Spitzensteuer-Zahler sind keine Massenbewegung, sondern eine Elite. Und selbst diese Elite zahlt den Spitzensatz nicht auf das ganze Einkommen, sondern nur auf einen Teil davon. Das hängt mit unserem komplizierten Steuersystem zusammen, bei dem der Steuersatz mit dem Einkommen steigt. Durchschnittlich zahlen Spitzenverdiener nach Berechnungen des Steuerexperten Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung selten mehr als 30 Prozent Steuern auf ihr gesamtes Einkommen. Der Staat ist längst nicht so gefräßig wie ihn Christian Lindner darstellt.
Er macht das oft, die Wirklichkeit anders beschreiben als sie ist. Dieses Lindnern. Wenn er für das Rentenkonzept seiner Partei wirbt und auf die Niederlande verweist, die angeblich seine Ideen bereits umgesetzt hätten, dann verschweigt er Wichtiges. Jeder Niederländer bekommt im Alter eine Grundrente von 1200 Euro, wenn er 50 Jahre in dem Land gelebt hat – egal, ob er gearbeitet hat oder nicht. Doch eine solche Grundrente will Lindner nicht einführen.
Der perfekte Politiker für Instagram
Früher hat er oft über Europa geredet und, was er sagte, klang nach Aufbruch. Doch der Mann wollte Griechenland aus dem Euro rausschmeißen und den Europäischen Rettungsschirm abschaffen, der vielen Ländern durch die Euro-Krise geholfen hat. Das wäre kein Aufbruch, sondern Abbruch gewesen.
Geschadet hat Lindner das Schummeln bislang wenig. Denn er verfügt über eine Eigenschaft, die beim Wähler bestens ankommt. Er sieht gut aus. Im Jahr 2018 ist er in einer Umfrage zum schönsten männlichen Spitzenpolitiker gewählt worden. Gutaussehenden Menschen werden positive Eigenschaften wie Durchsetzungsstärke, Machtbewusstsein und Kompetenz zugeschrieben, egal ob sie diese Fähigkeiten auch besitzen, sagt der Wissenschaftler Ulrich Rosar. Diese Bevorzugung mag unfair sein, aber viele Menschen entscheiden nicht nach Fakten, sondern nach Gefühl, und bei Christian Lindner haben viele offenbar das Gefühl, dass er kompetent ist und die Wahrheit erzählt, auch wenn er schummelt. Der Schein prägt das Sein und bestimmt das Bewusstein. Für die durchgestylte Instagram-Welt, das Disneyworld des 21. Jahrhunderts, ist Christian Lindner der perfekte Politiker. Wo hat er das nur gelernt?