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Ex-Ministerpräsident Matthias Platzeck Ostdeutsche brauchen mehr Selbstbewusstsein

Matthias Platzeck sagt, er sei "Ostdeutscher aus tiefster Seele". Mit dem stern spricht er über den Mauerfall, den Soli, Ampelmännchen, Westpersonal und seine Töchter.
Von Andreas Hoidn-Borchers und Stefan Schmitz

Herr Platzeck, wann haben Sie zuletzt gedacht: Typisch Wessi!?
Das passiert immer seltener. Aber der Selbstdarstellungstrieb ist bei unseren westdeutschen Freunden, vorsichtig formuliert, immer noch ein Stück stärker. Dafür ist die Neigung geringer, den eigenen Standpunkt zu hinterfragen. Aber das ist alles kein Wunder. Die östliche Gesellschaft war kooperativer…

Wie jede Mangelwirtschaft.


… und Ehrgeiz wurde nicht gefördert. Der Westen war schon immer auf Wettbewerb gerichtet, dem konnte sich auch kaum einer entziehen.

Mit Ausnahme von Angela Merkel und Joachim Gauck sind unsere Eliten rein westdeutsch. Hat das damit zu tun?


Natürlich. Im Osten sind noch immer rund 80 Prozent aller Leitungsfunktionen mit Westdeutschen besetzt, vom Sparkassendirektor über den Amtsgerichtspräsidenten bis zum Bundeswehrgeneral. Am Anfang war das normal, weil wir unbelastetes Personal brauchten. Aber wir dachten, das würde sich nivellieren, sobald die Posten erstmals nachbesetzt besetzt werden. Nüscht! Da hat dann gewirkt, was im Osten Seilschaften geschimpft wurde. Im Westen heißt das viel freundlicher: Netzwerke.

Wann haben Sie sich zuletzt beim Gedanken ertappt: Typisch Ossi!?
Tut mir leid, ich bin Ostdeutscher aus tiefster Seele! Die letzten 25 Jahre haben wir hierzulande eine einzigartige Leistung vollbracht. Wir haben aus einer maroden Wirtschaft etwas Lebensfähiges gemacht. Und obwohl es zeitweise 30 Prozent Arbeitslosigkeit gab, 80 Prozent der Menschen neue Berufe lernen mussten, ist es friedlich und politisch beherrschbar geblieben. Und deshalb würde ich mir mehr Selbstbewusstsein wünschen. Warum darf nur ein Bayer, kaum geboren, sich mit den Fäustchen auf die Brust klopfen und denken: Mia san mia?

Warum ist das ostdeutsche Selbstwertgefühl trotz der Aufbauleistung so gering?


Das hat mit Gesellschaftspsychologie zu tun. Deren Folgen werden unterschätzt, wirken aber lange nach. Wer in der DDR aufgewachsen war, erlebte 1990, wie tabula rasa gemacht wurde, und zwar 100 Prozent. Wir sind in einer größeren, erfolgreicheren Gesellschaft aufgegangen, mit allem, was wir hatten: Kultur. Sprache. Gesetze. Das kann politisch gut gehen, ist es ja auch, aber nicht mental.

Was wäre die Alternative gewesen?
Ideal wäre es gewesen, der kleineren, schwächeren, nicht so erfolgreichen Gesellschaft ein paar Haltegriffe mit auf den neuen Weg zu geben. Wenn man die Polikliniken erhalten hätte oder die Ganztagsschulen. Heute machen wir das ja alles in ganz Deutschland. Auch Kitas sind im Westen inzwischen selbstverständlich. Hätte man alles früher haben können. Und dann hätten die DDR-Bürger auch eine Chance gehabt, mit strafferem Kreuz in die Einheit zu gehen. Und nicht nur mit dem Ampelmännchen.

Ist das fehlende Selbstbewusstsein nicht eine Generationenfrage, die sich bald erledigt hat?


Wir haben vier Töchter, die sind Mitte 20 bis Mitte 30, bei denen merkt man das schon. Das hat auch damit zu tun, dass sie Studienjahre im Ausland verbracht haben. Mein Horizont endete in jenen Jahren auf Rügen und in Thüringen

Für die Generation Ihrer Töchter ist die DDR ganz weit weg?


Ein Stück Bewusstheit lebt schon fort. Die Älteren haben ja auch einen völligen Umbruch in ihren Schulen erlebt. Das hat sie geprägt. Für diese Generation ist das Grundgefühl: Alles ist möglich. Und: Vertraue nie darauf, dass Zustände so bleiben, wie sie sind. Daraus kann auch etwas sehr Produktives entstehen.

Die ökonomischen Daten in Ostdeutschland liegen auf rund 70 Prozent des Westniveaus. Ist das gut? Entspricht es zumindest den Erwartungen?
Erwartet haben natürlich alle 100 Prozent des Westniveaus, ist doch klar. Das ist ja auch gepusht worden. Für mich war immer wichtig, dass Menschen in der Region, in der sie leben wollen, ein vernünftiges Auskommen haben, Arbeit haben, sich wohl fühlen. Das ist nur zweitrangig davon abhängig, ob man woanders ein Stück besser lebt. Also: 30 Prozent Abstand sind zu viel. Bei zehn, 15 würde man sagen, das machen andere Punkte wie Heimat oder Freunde wett.

Die Wachstumsraten im Osten seit der Wende sind identisch mit denen im Westen in den Wirtschaftswunderjahren – aber die Wahrnehmung ist eine komplett andere. Kein Jubel, eher Jammer. Seltsam, oder?


Das kann man nicht vergleichen. Damals ging es um den Aufbau nach Krieg und Zerstörung. Nach der Wende hatten die Menschen im Osten aber eine saturierte Gesellschaft vor Augen und sagten: Das will ich auch haben. Stattdessen gab es erst einmal Umbrüche und Arbeitslosigkeit, die in jede Familie reichte. In Nordrhein-Westfalen hat man jahrzehntelange Übergangsprogramme für den Ausstieg aus der Steinkohle gemacht, hier wurden viele Braunkohletagebauten einfach geschlossen. Das ist natürlich mit ganz anderen Nebenwirkungen verbunden.

Zum Beispiel?
Selbst wenn jemand Erfolg hatte, hat er sich ja kaum getraut, das bei einer Grillfeier laut zu sagen, weil daneben ein Arbeitsloser saß. Außerdem darf man nicht vergessen, dass sich im Westen die Wirtschaft vor allem in den letzten Jahren besser entwickelt hat als im Osten. Die Differenz ist nicht mehr kleiner geworden.

Eine neue Studie der KfW beschreibt die Ungleichheit der Regionen in Deutschland zwischen 1926 und heute. Das Ergebnis: Heute ist es homogener. In Italien und Spanien sind die Unterschiede auch größer als in Deutschland. Vielleicht ist das ganz normal in entwickelten, großen Ländern.


Ich habe es ja eben gesagt, wenn es ein bisschen weniger wäre, könnte man damit leben. Aber wir sollten noch versuchen, eine Schippe draufzulegen. Man sieht ja, dass etwa in Italien die Lega Nord krakeelt, wir wollen die da unten nicht immer mitfinanzieren. Man darf sich also die Welt nicht schönreden.

Was sagen Sie den Leuten in wirtschaftlich schwachen Gegenden Westdeutschlands, die nicht einsehen, dass sie weiter für das boomende Leipzig zahlen sollen?
Wenn wir über den Länderfinanzausgleich und die Nachfolge des Solidarpakts entscheiden, müssen wir den bisher geltenden Automatismus ändern. Der Westen soll nicht mehr den Osten fördern, sondern der Starke den Schwachen. Man muss nur faire Kriterien definieren – dazu gehört, sich nicht von Leipzig oder Potsdam blenden zu lassen und die strukturellen Besonderheiten im Osten zu berücksichtigen. Das sind vor allem die um ein Drittel höhere Arbeitslosigkeit und das Fehlen industrieller Forschung.

Wird es einen Zeitpunkt geben, zu dem Ost und West keine Rolle mehr spielt?


Den werde ich sogar hoffentlich noch erleben. In meiner Endphase als Ministerpräsident haben wir uns in Sachfragen manchmal mit Niedersachsen verbündet oder mit Schleswig-Holstein. Das war einst undenkbar. Wir haben eine Ost-Ministerpräsidentenrunde, deren Tagesordnung und Tagungsfolge mir immer dünner zu werden scheint. Da verschiebt sich was. Irgendwann wird es normal sein, dass wir vielleicht eher das Nord-Süd-Gefälle zu beackern haben, wenn es um Interessenausgleich geht. Aber bis dahin haben wir noch eine erhebliche Wegstrecke zurück zu legen.

Den großen Report über 25 Jahre Deutsche Einheit....

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