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Hartz-IV-Debatte Westerwelles liberaler Stammtisch

Die Umfragewerte für die FDP sind grottig, zentrale Projekte wie die Kopfpauschale und die Steuerreform in Gefahr. Nun schießt Westerwelle gegen Hartz-IV-Empfänger. Warum?
Von Lutz Kinkel

Vermutlich freut sich FDP-Chef Guido Westerwelle diebisch. Denn es hat mal wieder funktioniert. Einfach ein bisschen am Verband zuppeln, und schon schreit der Patient. So hat es auch Roland Koch, CDU, vor drei Wochen gemacht. Koch sagte, der Bezug von Hartz IV dürfe nicht als "angenehme Variante" des Lebens verstanden werden und forderte eine Arbeitspflicht für Leistungsempfänger. Westerwelle legte nun nach und warnte: "Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein." Die Debatte um das Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts erinnere ihn an "geistigen Sozialismus". Westerwelle will nicht die Leistungsempfänger, sondern die Leistungsträger stärken.

Die Reaktionen auf Koch und Westerwelle: Applaus von den Stammtischen, blanke Wut im linken politischen Spektrum und bei den Sozialverbänden. Grünen-Fraktionschefin Renate Künast sprach von einer Beleidigung von Langzeitarbeitslosen, Verdi-Chef Frank Bsirske sagte "Jetzt lässt Guido Westerwelle die Maske fallen", SPD-Ministerpräsident Kurt Beck forderte umgehend eine Entschuldigung - ausgerechnet Beck, der 2008 bei einer legendären Begegnung in der Wiesbadener Fußgängerzone einen Hartz-IV-Empfänger aufgefordert hatte, sich zu waschen und rasieren.

Das Schielen von Koch und Westerwelle

Dass Koch und Westerwelle, zwei Figuren, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, Seite an Seite fechten, zeigt, dass beide auf dasselbe Wählerpotential schielen: die marktgläubige, konservative Mittelschicht, die CDU-Chefin Angela Merkel auf ihrem Modernisierungskurs rechts liegen lässt. Doch just diese Gruppe gehört nicht zur klassischen FDP-Klientel, hier mag Koch erfolgreich fischen, Westerwelles Chancen sind eher gering.

Inhaltlich, also in der Sache Hartz IV, produzieren Koch und Westerwelle ohnehin nur knallheiße Luft. Westerwelle hat das Problem selber benannt: Es sei ungerecht, wenn eine verheiratete Kellnerin mit zwei Kindern im Durchschnitt 109 Euro weniger verdiene, als wenn sie Hartz IV beziehen würde. Das wiederum sehen linke Politiker und Sozialverbände genau so: Die Einkommen im Billiglohnsektor spotten jeder Beschreibung. Im Gegensatz zu Koch und Westerwelle haben linke Sozialpolitiker allerdings eine Antwort darauf: den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Der müsste so hoch angesetzt werden, dass das von der Verfassung verlangte "Lohnabstandsgebot" gewährleistet ist. Heißt, grob gesagt: Jeder, der für Geld arbeitet, muss am Ende des Monats mehr in der Tasche haben als Transferempfänger.

Das Problem mit dem Mindestlohn

Doch der Mindestlohn ist für Union und FDP schlicht Teufelszeug. Die umgekehrte Variante - nämlich Hartz-IV soweit abzusenken, dass die Empfänger in jedem Fall weniger als Beschäftigte erhalten - ist bei Tariflöhnen, die in manchen Branchen schon auf weniger als fünf Euro pro Stunde gefallen sind, politisch unmöglich. Ein solcher sozialer Kahlschlag würde Zigtausende auf die Straße treiben. Was also tun? Zunächst einmal wird die Regierung die Hartz-IV-Sätze nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil erhöhen müssen, vor allem für Kinder. Das wird den Staat Milliarden kosten.

Das weiß Westerwelle, und es treibt ihn zur Verzweiflung. Denn mit jeder Milliarde, die der Staat zusätzlich ausgibt - und das auch noch für eine Wählergruppe, die mit der FDP so gar nichts zu tun hat - schwinden die Chancen, liberale Großprojekte umzusetzen, namentlich die Steuerreform und die Kopfpauschale. Die Beamten des Bundesfinanzministeriums haben jüngst mit spitzem Bleistift durchgerechnet, was diese Wahlversprechen kosten würden. Für den Drei-Stufen-Tarif in der Steuer - 10, 25, 35 Prozent - veranschlagen sie Kosten von 67 Milliarden Euro. Für den Sozialausgleich bei der Kopfpauschale bis zu 33 Milliarden Euro. Um dieses Geld wieder reinzuholen, notierten die Beamten genüsslich, müssten Einkommen ab 180.000 Euro eigentlich zu hundert Prozent besteuert werden. Das würde manchem Zahnarzt und manchem Wirtschaftsprüfer, der bisher sein Kreuzchen bei der FDP gemacht hat, überhaupt nicht gefallen. Prompt witterte die FDP hinter den Berechnungen eine üble politische Intrige. "Es ist schon erstaunlich, wie leicht sich die CDU/CSU vor den Karren der Opposition spannen lässt", tobte Ulrike Flach, die gesundheitspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion.

Außenminister und Oppositioneller

Das Gefühl, ständig von der Union übers Ohr gehauen zu werden, gehört inzwischen ohnehin zum psychologischen Inventar der Liberalen. Denn für die "geistig-politische Wende", die Westerwelle beschworen hat, geht nur einer in die Bütt: die FDP. Da die Wähler einen rabiaten Umbau der Gesellschaft gar nicht wollen - eine Tatsache, die Kanzlerin Angela Merkel längst verinnerlicht hat - sinken die Umfrageergebnisse der FDP. Sie schmierte von 14,7 Prozent bei den Bundestagswahlen auf aktuell 8 Prozent ab. Die Antwort, die Westerwelle auf dem Krisentreffen der Parteispitze am Sonntag vergangener Woche darauf formulierte, war überraschend: Wir werden nicht leiser, wir werden nicht vorsichtiger, sondern noch lauter.

Westerwelle, als oberster Diplomat Deutschlands eigentlich auf staatsmännische Zurückhaltung abonniert, rutscht also wieder in die Rolle des Lautsprechers hinein - Außenstehende haben das Gefühl, er macht Opposition gegen die eigene Regierungskoalition, besonders gegen Angela Merkel. Ob sich dieser Kurs bezahlt macht, ist unklar. Sicher ist nur: Wenn die FDP die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen verliert, haben die Spötter bereits eine Formulierungsvorlage. Denn dass der brachiale Gestaltungsanspruch der Liberalen auch etwas von "spätrömischer Dekadenz" hat, ist nicht zu bestreiten. Und dass Parteien politisch als arme Hartzer enden können, ebenso wenig.

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